Gewitter über Emilienlund: Mittsommerglück (German Edition)
betrachten.
Wunderschön, keine Frage. Zu ihrer Rechten erstreckten sich sattgrüne Wiesen in sanften Hügeln bis zum Horizont, zu ihrer Linken erhob sich der Waldrand. Auf beiden Seiten des Weges blühten Blumen in verschwenderischer Pracht.
Es war ihr gerade einigermaßen gelungen, das leichte Unbehagen abzuschütteln, als Cardassian neben ihr ein mürrisches Seufzen ausstieß. “Himmel, das ist ja der reinste Seniorennachmittag hier”, nörgelte er. “Ich hatte ja keine Ahnung, dass aus dir ein solcher Langweiler geworden ist, O’Brannagh!”
“Niemand zwingt dich, deine Zeit mit mir zu verbringen”, erwiderte Grey scharf. “Es steht dir jederzeit frei, deine Koffer zu packen und zu verschwinden.”
Die Lippen seines Kommilitonen verzogen sich zu einem Lächeln, kalt wie Eis. “Das würde dir gefallen, was? Aber das kannst du vergessen, mein Lieber. So leicht wirst du mich nicht los, darauf kannst du dich verlassen.”
Irritiert blickte Annie zwischen den beiden Männern hin und her. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen. Irgendetwas lag hier in der Luft, und auch wenn sie keine Details kannte, war ihr klar, dass es nichts Gutes sein konnte. Hatte Cardassian etwas gegen Grey in der Hand?
Sie kam nicht dazu, lange darüber nachzudenken, denn im nächsten Moment verkündete Cardassian mit einem strahlenden Lächeln: “Was haltet ihr von einem kleinen Wettrennen? Es wird Zeit, dass hier mal ein bisschen Schwung in den Laden kommt.” Er grinste anzüglich. “Die Lady bekommt natürlich einen Vorsprung, das ist doch selbstverständlich.” Und dann, ehe Annie protestieren konnte, versetzte er Rosebud einen Klaps. “Lauf schon, altes Mädchen. Zeig, was in dir steckt!”
Die Stute schnaubte erschrocken, dann stellte sie sich auf die Hinterbeine. Annie schrie auf und klammerte sich blindlings fest, um nicht abzustürzen. Für einen Moment schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Sie sah Greys entsetzten Gesichtsausdruck, beobachtete, wie er nach ihren Zügeln griff, um das Unglück in letzter Sekunde zu verhindern.
Erfolglos.
Wiehernd sprengte Rosebud los. Annie krallte sich in der Mähne der Stute fest. Das sanfte Schaukeln war zu einem irrsinnigen Rucken geworden. Immer wieder drohte sie aus dem Sattel zu rutschen. Das wäre ihr Ende, Annie wusste es genau. Wenn sie im vollen Galopp vom Rücken der Stute fiel, würde sie sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Genick brechen.
Die Landschaft schoss an ihr vorüber wie in einem Film. Tränen strömten ihr über die Wangen, ihr Atem ging gepresst und stoßweise. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie solche Ängste ausstehen müssen. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, und sie fühlte, dass sie nah daran war, das Bewusstsein zu verlieren. Doch sie durfte nicht ohnmächtig werden. Sie musste irgendwie versuchen, die Stute zu beruhigen.
In dem Moment sah sie den Weidezaun, und sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Verzweifelt versuchte sie, Rosebud zu stoppen, doch sie raste einfach weiter auf das Hindernis zu. Annie schloss die Augen, als das Pferd zum Sprung ansetzte. Ein schriller Schrei übertönte das Geräusch galoppierender Pferde hinter ihr. Es verging ein Augenblick, bis sie erkannte, dass sie selbst ihn ausgestoßen hatte.
Dann wurde sie mit einem Mal aus dem Sattel gehoben. Das grauenvolle Gefühl, hilflos in der Luft zu hängen, war kaum in Worte zu fassen. Für einen Moment schien sie zu schweben. Die Zeit stand still.
Sie fiel.
Der Aufprall war mörderisch. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, und für einen furchtbaren Augenblick hatte sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Erst nach schrecklichen Sekunden gelang es ihr, den Krampf in ihrer Brust zu lösen. Noch nie zuvor hatte ihr Sauerstoff so köstlich, so wunderbar geschmeckt wie in diesem Augenblick.
Dann kam der Schmerz. Annie stöhnte. Sie hatte das Gefühl, sich jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen zu haben. Doch immerhin war sie noch am Leben.
“Großer Gott, Annie!” Sie hörte, wie jemand nur ein paar Schritte von ihr entfernt vom Pferd sprang. Der Stimme nach war es Grey, aber es gelang ihr nicht, genug Energie aufzubringen, um den Kopf zu drehen. Die Welt verschwamm vor ihren Augen.
Doch dann sah sie sein Gesicht vor sich. Seine Miene drückte tiefe Sorge aus. Trotz der Schmerzen wurde ihr warm ums Herz.
“Ich …”, krächzte sie und räusperte sich angestrengt, als ihre Stimme versagte. “Ich glaube, ich bin in Ordnung.”
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