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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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den mit verbundenen Augen Suchenden an die richtige Stelle
dirigieren. Welcher Geist auch immer Lorenz dirigierte, er führte ihn aus den
tiefgelegenen Etagen wieder heraus und leitete ihn nach oben, während Lorenz’
Verfolger den Eindringling im unterirdischen, tresorartigen Bereich vermuteten.
Aus gutem Grund, da dort – vor der Öffentlichkeit noch geheimgehalten – eine
fünfte Version des »Schreis« lagerte. Kein Wunder also, daß man einen Überfall
nicht oben, sondern unten befürchtete und es sich im Zuge glücklicher Umstände
(oder dank der weisen Führung eines guten, kindlich klugen, mit Hilfe von
Temperaturangaben lotsenden Schutzengels) ergab, daß Lorenz und die
schwerbewaffneten Sicherheitskräfte ungesehen aneinander vorbeiliefen.
    Solcherart unbehindert, stieg Lorenz bis ins letzte Stockwerk hoch,
wo er auf die Maxima »brennheiß«, »Wüstensand« und »Kernschmelze« traf.
Beziehungsweise auf einen langen, fensterlosen Flur, weiße, leere Wände,
helles, jeden Winkel ausleuchtendes Licht sowie einen silbergrauen
Teppichboden, der absolut jedes Geräusch schluckte, selbst das der Klimaanlage,
die Lorenz nur wegen der feinen Brise wahrnahm, die seine Stirn kranzartig
einrahmte, seinen Schweiß geradezu abtupfte.
    Niedrig und schmucklos, wie der Raum war, mutete er dennoch sakral
an. Wohl auch darum, weil eine einzige Türe an seinem Ende einen logischen
Abschluß bildete. Denn was wäre logischer als am Ende eine Türe? Dazu brauchte
man nicht einmal richtig religiös sein. Freilich besteht das Wesen von Türen
nicht zuletzt in ihrem zeitweiligen Verschlossensein. Daß diese Türe hier
abgesperrt war, darüber war sich Lorenz so sicher wie über den Umstand, daß
sich hinter ihr Inger in Schwarz und Violett befand.
    Einen halben Meter vor der klinkenlosen Türe ragte aus dem sanften
Silbergrau des Bodens eine metallene Säule, die in Hüfthöhe eine
schräggestellte ovale Fläche bildete, auf der eine gläserne Tastatur die
Ziffern 0 bis 9 aufführte. Die Null stand allein, sodann die üblichen
Dreierreihen. Tastatur ist nicht ganz richtig. Vielmehr waren die Ziffern ohne
jegliche Umrandung und so zart wie dünn auf die Glasplatte aufgedruckt oder
hineingraviert worden. Lorenz dachte mit einiger Wehmut an die guten, alten
Telefone mit ihren Drehscheiben und an echte Schreibmaschinen mit echten
Tasten, die man noch hatte anschlagen müssen, während die Geräte heutzutage
bereits auf jede zaghafte Annäherung zu reagieren schienen. Das war ja nicht
zuletzt der Grund, daß so viel Geschriebenes in der Welt umging. Die Tastaturen
der Handys und Computer verhielten sich gleich Katzen, die sich unter einer
Berührung winden, die gar nicht stattfindet, sondern bloß als Andeutung oder
Vorhaben besteht.
    Aber abgesehen von dieser gewissen Aversion gegen das neumodische
Zeug war Lorenz ohnehin nicht in der Lage, einen bestimmten Code zu wählen. Wie
denn auch?
    Er erstarrte in Ratlosigkeit. Hier waren weder Mut noch Wahnsinn
gefragt. Hier war keine Brücke, von der man springen konnte. Niemand, der sich
von einer Kaltblütigkeit beeindrucken ließ oder den eine poetische Phrase
rührte. Zudem fürchtete Lorenz zu Recht, daß die Sicherheitsleute demnächst auf
die Idee kommen würden, auch mal ganz oben nachzuschauen. Nicht, daß er Angst
hatte vor den rechtlichen Folgen, seine Angst war allein die, Inger nie wieder
zu sehen.
    Mit hängenden Schultern stand er da und stierte auf den Boden. Auf
diese Weise fiel sein Blick zufällig auf die verschmähte Seite, dort, wo seine
linke Hand gleich einer vertrockneten Rebe aus dem Ärmel heraushing. Im ersten
Moment meinte Lorenz auf seinem Handrücken eine Verletzung zu erkennen, so eine,
wie sie vielleicht der von seiner Geliebten in Herz und Hand getroffene Edvard
Munch davongetragen hatte. Indem Lorenz jedoch den Arm leicht anhob, stellte er
ungläubig fest, daß hier etwas auf seiner Haut geschrieben stand. Eine mit
blauem Filzschreiber gezeichnete Ziffernreihe. Ganz in der Art, wie man das von
Personen kennt, die sich in großer Eile und bar eines Stück Papiers eine
Telefonnummer auf ihrem Handrücken notieren. Aber es war nicht seine eigene
Schrift. Jemand anders mußte …
    Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wer ihm eine
Abfolge von eins, zwei, …von sechs
Ziffern

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