Gewitter über Pluto: Roman
wäre ihm nun wirklich nicht in den Sinn
gekommen. Solcherart in der Zwickmühle der Bedürfnisse und eingeschränkter
Spielräume, wurde er nur noch bedrückter, fand jedoch gleichzeitig in der Kunst
Munchs, vor allem in den frühen Arbeiten, eine wunderbare bildnerische
Entsprechung zur eigenen Trübsinnigkeit. So ist das ja oft mit der Kunst. Sie
bildet unser Leiden ab, und wir fühlen uns von ihr verstanden, als wäre sie
unser bester Freund. â Ist sie wahrscheinlich auch.
Gleich bei diesem ersten Besuch war ihm ein Gemälde besonders
aufgefallen: »Inger i svart og fiolett«, also: Inger in Schwarz und Violett.
Darauf sieht man eine junge Frau, die Schwester des Künstlers, Inger Munch. Sie
steht da, beinahe lebensgroÃ, die Hände verschränkt, ja eigentlich ist die
ganze Person verschränkt: verschlossen und abwehrend, freilich auf eine sehr
anziehende Weise. Die junge Frau auf diesem Bild demonstriert eine feste Würde
sowie eine versteinerte â und nur darum halt- und erhaltbare â
Zerbrechlichkeit, wie bei diesen schönen alten Vasen, die, nachdem sie zu Bruch
gegangen und restauriert worden sind, im zusammengeklebten Zustand sehr viel
robuster wirken also zuvor. Und es ja auch sind. (Zumindest geht man mit ihnen
um einiges vorsichtiger um.)
Der Mund dieser Frau ist nicht bloà geschlossen, sondern ausgesprochen
versperrt. Allein die Augen reden. Ganz in der Art einer Unberührbaren.
Dergestalt, als bezweifle die Porträtierte den Sinn genau jener Malerei,
welcher sie gerade zum Opfer fällt. Ja, sie ist ein Opfer, aber ein erhabenes,
freies, distanziertes, eben ein unberührbares Opfer.
Für Lorenz jedenfalls war dieses Bild anbetungswürdig. Zudem fand er
Gefallen daran, daà die Figur im gemalten Raum nicht zentral positioniert war,
sondern etwas nach rechts verschoben stand, sodaà er sich â als der
Leider-nein-Neglectiker, der er war â dennoch auf die »richtige« Seite
konzentrieren konnte. Wobei es auf diese Weise passierte, daà er den
linksseitigen, eher hingehauchten als gemalten Schatten der Frau übersah. â Es
gab da übrigens eine biographische Note in Edvard Munchs Leben, die Lorenz
besonders anzog, nämlich der Umstand, daà Munch von seiner Geliebten Tulla
Larssen 1902 angeschossen worden war, wovon er eine Verletzung seiner linken
Hand davongetragen hatte. Was ja sicher kein Spaà ist. Umsomehr, als Munch wohl
auch eine zweite, imaginäre, tief ins Herz eindringende Kugel abbekommen hatte,
die ein Leben lang durch dieses Herz gewandert war, im Stil einer Schraube.
Doch die Verletzung der linken Hand bedeutete für Lorenz nun mal ein Symbol von
groÃer Kraft.
Mindestens einmal in der Woche suchte Lorenz die Munch-Sammlung auf,
schlenderte durch die vertrauten Räume, blieb einmal da, einmal dort stehen,
filterte immer neue Details und Erkenntnisse aus den Bildern und kam sodann bei
dem Porträt der schlanken, scheinbar ganz leicht über dem Boden schwebenden
Inger zu stehen, nahm auf einer Bank Platz und verlor sich für eine halbe
Stunde und mehr in der Betrachtung einer Frau, von der jemand einmal behauptet
hatte, genau so hätte Lilli Steinbeck in ihren jungen
Jahren ausgesehen. Aber wer war Lilli Steinbeck? Lorenz hatte keine Ahnung. Und
wollte es auch gar nicht wissen, denn er verglich Inger gerne mit Sera, empfand
die gleiche klare Schönheit, eine Schönheit, wie man sie von antiken Säulen
kennt, die nichts auÃer sich selbst tragen.
Den Museumswärtern war Lorenz natürlich aufgefallen. Zu Anfang
hatten sie ihn besonders im Auge behalten wegen seiner deutlichen Liebe zu
diesem einen Bild. Doch nach und nach schien sich die Auffassung durchgesetzt
zu haben, daà die Leidenschaft dieses Besuchers für »Inger in Schwarz und
Violett» keine gefährliche sein konnte. Nicht zuletzt war das Gemälde nicht
bedeutend genug, wie eben der »Schrei« oder »Abend auf Karl Johan«, um
ernsthaft ein Attentat zu provozieren. Man lieà Lorenz also in Ruhe
herumsitzen. Welcher wiederum dem Museumspersonal in einer Weise zunickte, wie
man das mit den Kellnern seines Stammrestaurants tut, ohne gleich in ein
freundschaftliches Geplauder zu verfallen, weil man schlieÃlich nicht zum
Plaudern in dieses Restaurant kommt, sondern zum Essen.
Es war ein kalter, trüber Tag im Spätherbst, als Lorenz
hoch zum Schloà spazierte, dort, wo ein
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