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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Denn mit dem Denken
beginnt ja das ganze Unglück. Lorenz hatte sich immer wieder gefragt, wie
jemand imstande sein konnte, einer auch nur imaginierten Katze eine solche Qual
anzutun, um sodann auf eine völlig ungerührte Weise quantenmechanische
Überlegungen anzustellen, die in der Einsicht gipfelten, daß erst im Moment der
Beobachtung – also beim Öffnen der Kiste – die Wirklichkeit sich darauf
festlegen könne, ob die Katze schon tot sei oder eben nicht. Denn vor diesem Öffnen, vor dem Moment
der Messung und Beobachtung, bestehe ein Zustand der Überlagerung, ein Zustand
des Sowohl-Als-auch, weil Wellenfunktionen für ein totes ebenso wie für ein
lebendiges Tier existieren würden. Einerseits. Andererseits mochte ja die Katze
selbst in der Lage sein, das eventuelle Auslösen des Mechanismus wahrzunehmen und
damit also ihrerseits mittels Augenschein die Wirklichkeit zu markieren, noch
bevor der außenstehende Experimentator dazu in der Lage war.
    Gerade dieser Umstand erschien Lorenz besonders widerwärtig, sich
eine den eigenen Tod beobachtende und solcherart physiktheoretisch bedeutsame
Katze vorzustellen. Sein jugendlicher Zorn hatte ihn zu der Frage geführt,
weshalb der gute Schrödinger sich eine fiktive Katze ausgedacht hatte und nicht
etwa ein fiktives Ebenbild, einen theoretischen Schrödinger. Für den jungen
Lorenz stand fest, daß diese verdammten Wissenschaftler gefälligst an sich
selbst herumexperimentieren sollten, anstatt Tiere – gleichgültig ob real oder
erfunden – für ihre Zwecke zu mißbrauchen, für ihren unstillbaren Drang nach
Weltzerlegung. (Lorenz wußte nicht, daß ein anderer Quantenmensch, Eugene Paul
Wigner, immerhin so weit gegangen war, in einem ergänzenden Gedankenexperiment
der theoretischen Katze einen theoretischen Menschen zur Seite zu stellen,
nämlich »Wigners Freund«. Vom Standpunkt humaner Gepflogenheiten war es
freilich auch nicht sehr viel besser, nicht nur das Leben der Katze, sondern
auch das des Freundes zu riskieren, selbst wenn dieser Freund bloß ein Klon
Wigners sein mochte.– Das wird
überhaupt das Thema der Zukunft werden: ob wir einmal mit unseren Klonen so
schlecht umgehen wie mit unseren Tieren.)
    Was Lorenz freilich bereits zu Jugendzeiten als absolut stichhaltig
empfunden hatte, war die Vorstellung, daß die Dinge nur so lange klar und deutlich erscheinen, solange wir sie beobachten. Beobachten wir
sie nicht, so zeigen sie ihr wahres Gesicht, werden nebulös, milchig, unscharf,
unzuverlässig oder – wie die Physiker dazu sagen – verschmiert .
Ja, die Wirklichkeit ist eine verschmierte, gibt sich aber adrett und sauber,
sobald nur einer von uns hinschaut. Wie diese Kids, die freundlich lächelnd
ihre Alten um Geld fürs Kino bitten, um dann auf eine Drogenparty zu gehen.
    Eines nun stand außer Frage: Für eine kleine Katze
brauchte es keinen solchen Behälter wie diesen hier. Und ebenso überzeugt war
Lorenz davon, daß sich in diesem schalldichten Kasten niemand anderes als Inger
befinden konnte, eingesperrt mit einem irgendwann oder aber bereits zerfallenen
radioaktiven Atom. Entweder war Inger tot, oder sie lebte. Beziehungsweise mußte
man sich eine verschmierte Inger denken, bei welcher
der Tod und das Leben ineinander verschränkt waren.
    Welche Inger bitte schön? Inger in Schwarz und Violett?
    Doch für Lorenz bestand kein Unterschied mehr zwischen dem Realen
und dem Fiktiven. Zwischen dem Gemälde und der Person auf dem Gemälde. Zwischen
wirklichen und erfundenen Katzen. Zwischen echten Helden und Romanfiguren. Die
ganze Welt bedeutete ein Experiment, in dem jeder gleichzeitig als Katze und
als Schrödinger fungierte. Schrödingers Katze und Katzes Schrödinger.
    Diese Einsicht traf Lorenz nun mit voller Wucht, als sich hinter ihm
die automatische Türe mit dem singenden Ton tendenziell zynischer
Gebäudetechnik schloß. Gleichzeitig sprang ein weiterer Scheinwerfer an, der
eine dicht unter der Decke hängende, für Lorenz unerreichbare Konstruktion
beleuchtete, die auf eine geradezu illustrative Weise einen Geigerzähler mit
einer hammerartigen Konstruktion verband. Der Hammer war auf ein schmales,
gläsernes Gefäß gerichtet. Keine Frage, daß sich darin ein giftiges Gas
befinden mußte.
    Lorenz war gefangen. So wie Inger gefangen war. Genau so, wie auch
jener gefangen war, der

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