Gewitter über Pluto: Roman
auf seine Haut aufgemalt haben sollte.
Er dachte nach. Atmete wie aus einem Salzstreuer, wie durch viele
kleine, winzig-enge Löcher. â Im Grunde ergab sich eine einzige Möglichkeit:
daà nämlich sein Neglect doch nicht völlig verschwunden war, daà er noch immer,
wenngleich nur kurz, in Phasen einseitiger rechtslastiger Wahrnehmung geriet.
So würden sich auch die flüchtigen Momente der Zufriedenheit erklären lassen,
die er selbst hier in Oslo mitunter erlebte und die ihm immer zauberisch
unbegründet vorkamen.
Ja, das war es. Jemand muÃte ihm, während er sich glücklich in der
rechten Hemisphäre aufgehalten hatte, diese Nummer auf seinen empfindungslosen
linken Handrücken aufgezeichnet haben.
Claire Montbard?
Und zu welchem Zweck?
Nun, vielleicht können manchmal die Mittel den Zweck heiligen.
Er vernahm aus der Ferne Stimmen. Seine Verfolger. Weshalb er sich
nicht länger mit den Fragen nach dem Warum und Wieso aufhielt, sondern die
einzelnen Ziffern auf der Scheibe antippte. Nach und nach offenbarte sich â auf
einem aus dem Glas herausleuchtenden zartrosa Display â dieselbe Zahl wie auf
Lorenzâ linkem Handrücken.
Was hier allerdings fehlte, war eine Okaytaste. Natürlich fehlte
sie, denn so klug war diese Maschine durchaus, von allein zu wissen, wann etwas
okay war.
Und okay war diese Ziffernreihe ganz sicher: 134340.
Die Türe öffnete sich.
Lorenz betrat einen weiten, hohen Raum, dessen Wände im Dunkel
verschwanden, während das Zentrum matt beleuchtet dalag. Aus ebendieser Mitte
erhob sich ein kartonartiges Behältnis von der GröÃe eines Geräteschuppens. Ein
Postpaket für einen Riesen. Doch der bräunlichen Oberfläche zum Trotz schien es
sich um ein Metall zu handeln. Erst nachdem Lorenz mehrmals das Objekt umrundet
hatte, fiel ihm die ungemein feine Naht auf, welche möglicherweise die
Umrandung einer Tür bildete. Und als er nun den Kopf ganz nahe heranführte,
erkannte er auf der ansonsten vollkommen strukturlosen Fläche erneut eine
glatte Zifferntastatur, welche in der Art einer hingehauchten Feuchtigkeit
auftauchte und sodann verschwand, auftauchte, verschwand, in gleichmäÃigen
Abständen, verwandt der ein Stück über das Wasser sich erhebenden und dann
wieder im Wasser versinkenden Brust eines Mannes, der in einer Badewanne liegt.
Jeder erlebt das. Diese Momente, da man ganz genau weiÃ, wen oder
was man vor sich hat, auch wenn die Hinweise mehr als spärlich sind. Auf diese
intuitive Weise erkennt man etwa den Teufel, oder man erkennt ein konkretes
Muster in einer abstrakten Anhäufung, oder man spürt ein weit in der Zukunft
liegendes Unglück, das soeben seinen harmlos wirkenden Anfang nimmt. Es geht
dabei weniger um eine seherische Fähigkeit als um das absichtslose Auffangen einer
im Raum stehenden GewiÃheit. Man könnte auch sagen, man fällt in diese
GewiÃheit hinein, man stöÃt sich den Kopf an ihr oder gerät in ihre Umarmung.
Jedenfalls war es für Lorenz in diesem Augenblick eine völlig klare
Sache, daà es sich bei dem Container, vor dem er stand, um ein Behältnis
handelte, in dem ein Experiment stattfand, welches allgemein bekannt war unter
den Namen Schrödingers Katze .
Schrödinger, das ist dieser österreichische â und wie alles
Ãsterreichische letztendlich in der Paranoia gelandete â Wellenmechaniker, der
für seine gleichnamige Gleichung berühmt wurde, vor allem aber für seine Katze.
Diese fiktive Katze wird bei Schrödinger in eine fiktive Kiste gesperrt, von
der nichts nach auÃen dringt. Ebenfalls in der Kiste befinden sich ein
radioaktives Atom sowie ein Geigerzähler, der bei dem zufällig einsetzenden
Zerfall des Atoms zu klicken beginnt und damit einen Mechanismus in Gang setzt,
der das Ausströmen eines giftigen, eines für die Katze tödlichen Gases zur
Folge hat. Beziehungsweisehaben könnte, da man ja bis
zum Ãffnen nicht sagen kann, ob sich der radioaktive »Unfall« vollzogen hat
oder nicht.
Lorenz Mohn hatte bereits als Kind oder Jugendlicher von diesem
Experiment gehört gehabt, und wie viele andere hatte er sich weniger für die
physikalische Bedeutung interessiert, sondern vor allem an die Grausamkeit
gedacht â auch wenn es nur eine gedachte Grausamkeit war â, die darin bestand,
eine unschuldige Katze in einen Behälter zu sperren.
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