Gewitterstille
unglaubliche Präsenz. Und sie schien äußerst verärgert zu sein.
»Vielleicht könnten Sie mir freundlicherweise sagen, wer alles einen Schlüssel zum Haus meiner Mutter hatte?«, herrschte sie Anna mit vor Wut bebender Stimme an.
»Soweit ich weiß, nur ich«, gab diese verblüfft zurück.
Petra Kessler schien Anna mit ihrem Blick durchbohren zu wollen.
»Die Münzsammlung und eine überaus wertvolle Meissener Porzellandose sind verschwunden«, zischte Petra Kessler mit zusammengekniffenen Augen.
Anna traf der unausgesprochene Vorwurf derart unvermittelt, dass sie für einen kurzen Augenblick sprachlos war. »Also, entschuldigen Sie mal!«, empörte sie sich schließlich. »Ich habe Ihre Mutter mit Sicherheit nicht bestohlen.« Ihr wurde klar, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte und Petra Kesslers arrogantes und gelassenes Auftreten nur Fassade gewesen war. Sie schien ein Mensch zu sein, der sehr schnell aus der Fassung geriet.
»Ich habe auch gar nicht behauptet, dass Sie sie bestohlen haben, aber irgendjemand hat es getan.«
»Meinen Sie die Dose, die Ihre Mutter von ihrem Vater bekommen hat?«
»Genau die meine ich«, sagte Petra Kessler immer noch sichtlich erregt und blickte misstrauisch zu Sophie hinüber.
»Das wird sich sicher aufklären lassen«, schaltete die sich jetzt ein. »Vielleicht hat Ihre Mutter ja die Sachen verkauft oder verschenkt.«
Anna fragte sich angesichts der Heftigkeit von Petra Kesslers Reaktion, ob ihr nur der materielle Wert der Gegenstände am Herzen lag, oder ob ihr die Stücke tatsächlich etwas bedeutet hatten.
»Sie hat die Dose mit Sicherheit nicht verkauft oder verschenkt«, widersprach Anna, bevor Frau Kessler selbst den entsprechenden Einwand erheben konnte. »Sie hat mir einmal gesagt, dass es sich bei der Dose um ihr allerliebstes Stück handelte, das sie von ihrem eigenen Vater geerbt habe und in Ehren halte.«
»Was denn für eine Dose?« Sophie verstand offenbar nur Bahnhof.
»Eine Dose aus Meissener Porzellan«, wiederholte Petra Kessler. »Ein sehr kostbares Unikat so etwa aus dem Jahre 1860. Sie ist mit unzähligen bunten Rosenblüten verziert, und auf der Mitte des Deckels sind zwei kleine Putten dargestellt.«
»Putten sind Engel«, belehrte Anna Sophie.
»Selbst ich kenne den Unterschied zwischen Putte und Pute«, antwortete Sophie schnippisch.
»Jedenfalls hätte meine Mutter die Dose nie im Leben verkauft.«
»Vielleicht ist sie zerbrochen?«, mutmaßte Sophie.
»Das wäre für den Dieb sicher eine willkommene Erklärung.« Petra Kessler wurde plötzlich so rot, dass Anna fürchtete, ihr Kopf könnte jeden Moment platzen.
Zugleich empfand sie die Äußerung erneut als einen ge gen sie erhobenen Verdacht. »Sie sollten eine Diebstahlsanzeige erstatten«, sagte sie sachlich. »Außerdem sollten Sie nachschauen, ob im Haus Ihrer Mutter weitere Wertgegenstände fehlen.«
Anna fiel plötzlich etwas ein. »Ihre Verandatür war offen, als man sie fand«, sagte sie.
»Denkst du, ein Fremder ist in Frau Möbius’ Haus gewesen?«, hakte Sophie nach.
Anna schüttelte den Kopf, setzte sich an den Küchentisch und bot Frau Kessler ebenfalls einen Platz an. Die lehnte jedoch ab und blieb mit verschränkten Armen vor dem Kühlschrank stehen.
»Ihre Terrasse ist von der Straße aus nicht einsehbar. Es gab auch überhaupt keinen Hinweis auf einen Diebstahl, als man sie fand.«
»Wo hat Frau Möbius die Dose denn aufbewahrt?«, mischte sich Sophie erneut ein.
»In ihrem Schlafzimmer, soweit ich weiß. Sie hat gesagt, es wäre ihr zu gefährlich, sie im Wohnzimmer stehen zu haben. Sie hätte es sich nie verzeihen können, wenn sie hinuntergefallen wäre.«
»Sie wissen ja wirklich gut Bescheid über die Besitztümer meiner Mutter«, sagte Petra Kessler. Immerhin schien sie durch die Unterhaltung ein wenig ruhiger zu werden. Anna hoffte, dass sie den absurden Verdacht gegen sie fallen lassen und anerkennen würde, dass sie sich ernsthaft um Aufklärung bemühte. Gleichzeitig fragte sie sich, ob die Kessler wohl das Gleiche dachte wie sie. »Wenn die Dose wirklich gestohlen worden ist, muss der Dieb ihren Wert gekannt haben.«
»Ich weiß nicht mehr, wann wir über die Dose gespro chen haben. Ich habe gelegentlich Besorgungen für Ihre Mut ter erledigt, und da hat sie mich eben manchmal auf einen Kaffee eingeladen. Einmal sind wir zufällig auf die Dinge zu sprechen gekommen, die uns besonders viel bedeuten.«
»Ganz zufällig …«,
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