Gewitterstille
ihr Leben verändert hatte, nachdem ihr Vater gestorben war. Ihre Eltern hatten seine Krankheit immer zu verheimlichen versucht. Nachdem er sich umgebracht hatte, war alles anders geworden. Die Tatsache, dass er sich ausgerechnet an dem Tag erschossen hatte, an dem Christoph und seine Klassenkameraden ihr den Spiegel und die Pistole geschenkt hatten, hatte die Bosheit ihrer Mitschüler erstickt. Sie waren schuldig geworden, und niemand hatte sich je wieder getraut, sie zu hänseln. Mit einem Mal war sie nicht mehr das stille, sonderbare Mädchen gewesen, sondern ihr Leid und die Schuld, die ihre Mitschüler auf sich geladen hatten, hatten sie unantastbar gemacht. Von Stund an hatte man sie mit anderen Augen betrachtet. Sie war durch das Schicksal ihres Vaters interessant geworden, zu jemandem, den man bedauerte und nicht ignorieren konnte. Damals hatte sie angefangen zu hungern. Sie hatte Genugtuung empfunden, wenn die anderen sie ansahen. Das betretene Schweigen, wenn sie den Klassenraum betrat, als sie mit sechzehn nur noch vierunddreißig Kilo wog, war wie Nahrung für ihre Seele gewesen. Das Spiel mit dem Tod hatte ihr Macht verliehen. In den Augen aller, so schien es ihr damals, hatte sie stets die Schuld erkennen können für das, was man ihr angetan hatte. Sie hatte sie alle büßen lassen. Auch ihre Mutter hatte gebüßt. Petra hatte ihr nie ganz zu verzeihen vermocht, dass sie ih ren Vater verraten und versucht hatte, ihn gegen seinen Willen in eine Klinik abzuschieben. Ihr Vater hatte seine Frau bedingungslos geliebt und ihr blind vertraut. Je älter Petra geworden war, desto mehr war die Überzeugung in ihr gewachsen, dass es am Ende nicht seine Krankheit war, die ihn schließlich in den Tod getrieben hatte, sondern der Vertrauensbruch, den es für ihn bedeutet haben musste, dass seine Frau hinter seinem Rücken seine Einweisung vorbereitet hatte. Obwohl Petra damals versucht hatte, ihre Mutter zu verstehen, war auch ihr Vertrauen erheblich erschüttert worden. Sie hatte sich mehr und mehr von ihr entfernt und schließlich selbst unter der Angst gelitten, ihre Mutter würde auch sie in die Psychiatrie bringen wollen. Vor allem aber sah sie sich noch heute auf dem Beckenrand der Badewanne sitzen, während ihre Mutter ihre Sachen für den Kurztrip nach Hannover packte, sah sich betteln und bitten, sie nicht allein zu lassen. Ihre Mutter trug nicht nur eine große Verantwortung für den Tod ihres Vaters, sie trug vor allem auch die Verantwortung dafür, dass ihre Tochter ihn hatte finden müssen. Das Bild seines leblosen Gesichtes und das Blut, das seine Schläfe hinabrann, hatte sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt und war seit ihrer Jugend nicht aus ihren nächtlichen Träumen zu verscheuchen gewesen. An dem Tag, als ihr Vater sich erschoss, hatte am Morgen, kurz nachdem ihre Mutter das Haus verlassen hatte, eine Sprechstundenhilfe aus der Klinik in Hannover angerufen, um den Termin zu verlegen, weil der Professor erkrankt war. Ihr Vater hatte den Anruf entgegengenommen. Wie er sich wohl gefühlt haben mochte, als er erfuhr, dass seine Frau seine Zwangs einweisung vorbereitete? Vielleicht genau so wie sie, als sie erfahren hatte, dass der Mann sie betrog, den sie ein ganzes Leben lang geliebt hatte. Christoph … Solange sie denken konnte, schon als junges Mädchen, war sie von dem Wunsch beseelt gewesen, ihn zu heiraten. Als sie noch Schülerin gewesen war, schien er für sie unerreichbar zu sein. Aber sie hatte sich über die Jahre verändert. Insbesondere nach ihrer Schulzeit galt sie über viele Jahre als gefestigte Persönlichkeit. Sie hatte damals begonnen, als Vertreterin für einen Kosmetikkonzern zu arbeiten. Ihr altes Ich lag hinter einer wohldekorierten Fassade verborgen. Auf dem zehnjährigen Klassentreffen hatte sie erstmals Christoph wiedergetroffen, der schon in jungen Jahren zu einem erfolgreichen Textilimporteur geworden war. Er hatte sie erst gar nicht erkannt. Noch heute fragte sie sich manchmal, wie es ihr gelungen war, ausgerechnet ihn einzufangen. Vermutlich hatte er ihre Ehe im Laufe der Jahre als Strafe für sein Julklapp-Geschenk empfunden. Fakt war, dass er wenig dafür getan hatte, sein Leben zu erhalten. Selbst jetzt, wo er tot war, empfand sie noch den Wunsch, ihn zu tadeln. Er hatte sich nicht im Griff gehabt. Seine Maßlosigkeit beim Genuss von Nahrungsmitteln, Alkohol und Zigaretten war ihr stets wie ein stiller Protest gegen ihren Diätwahn erschienen. Lediglich
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