Gezeiten der Liebe
dich seit fast zehn Jahren, und meine Liebe wird immer größer.«
Sie hatte das zweite Kissen genommen, das ihr jetzt aber aus der Hand glitt. Als ihr Tränen in die Augen schossen, blinzelte sie. »Ich dachte, ich könnte leben, ohne dich das jemals sagen zu hören. Aber jetzt mußt du es gleich noch mal sagen, damit ich wieder atmen kann.«
»Ich liebe dich, Grace.«
Lächelnd schlug sie die Augen auf. »Es klingt so ernst, fast traurig, wie du das sagst.« Um ihn aufzumuntern, streckte sie die Hand nach ihm aus. »Vielleicht solltest du es öfter üben.«
Seine Finger verflochten sich mit den ihren, als unten plötzlich die Fliegentür zukrachte. Füße stampften auf der Treppe. Als sie auseinanderfuhren, erschien Seth im Flur. Er kam schlitternd vor ihrer Tür zum Stehen, die Grace gerade geöffnet hatte, dann stand er nur da und starrte sie fassungslos an.
Er schaute auf das Bett, das noch nicht völlig geglättete Laken, das Kissen, das auf dem Fußboden lag. Dann wanderte
sein Blick zu ihnen, erfüllt von bitterem Zorn, der für sein kindliches Gesicht viel zu erwachsen schien.
»Du Mistkerl.« In seiner Stimme lag Abscheu, als er Ethan fixierte, dann Widerwille, als sich sein Blick auf Grace heftete. »Ich dachte, ihr wärt anders.«
»Seth ...« Sie trat einen Schritt vor, doch er machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. »O Gott, Ethan.« Als sie dem Jungen nachlaufen wollte, hielt Ethan sie am Arm zurück.
»Nein, ich gehe ihm nach. Ich weiß, was in ihm vorgeht. Mach dir keine Sorgen.« Er drückte ihren Arm, bevor er hinausging. Dennoch folgte sie ihm zur Treppe, krank vor Sorge. Noch nie hatte sie so glühenden Haß in den Augen eines Kindes gesehen.
»Verflixt noch mal, Seth, ich hab’ dir gesagt, du sollst dich beeilen.« Cam kam zur Haustür herein, als Ethan am Fuß der Treppe anlangte. Cam schaute hoch, sah Grace und grinste. »Huch!«
»Ich hab’ jetzt keine Zeit für zweideutige Witze«, sagte Ethan. »Seth ist weggelaufen.«
»Was? Wieso?« Er begriff, noch bevor er ausgesprochen hatte. »Oh, Mist. Er muß hinten rausgelaufen sein.«
»Ich suche ihn.« Ethan schüttelte den Kopf, als Cam protestieren wollte. »Ich bin es, auf den er sauer ist. Er denkt, daß ich ihn im Stich gelassen habe. Also muß ich die Sache auch in Ordnung bringen.« Er schaute zu Grace hinüber, die sich auf die Treppe gesetzt hatte. »Kümmre dich um sie«, raunte er Cam zu und lief zur Hintertür.
Ethan nahm an, daß Seth in den Wald gelaufen war. Hoffentlich nicht zu weit weg. Na ja, er ist ein Überlebenskünstler, dachte Ethan, um sich Mut zu machen. Dennoch war er ungeheuer erleichtert, als er in der Nähe das Rascheln von Sträuchern und welken Laub hörte.
Schnell hatte er die Stelle entdeckt, an der Seth vom Pfad abgebogen war. Ethan schob sich durch ineinander verflochtene
Ranken, durch dorniges Gestrüpp und folgte seiner Spur. Das Laub der Bäume, die über ihm zusammenstießen, sperrten das grelle Licht und die schlimmste Sonnenhitze aus, aber die Luftfeuchtigkeit war enorm hoch.
Schweißtropfen liefen Ethan am Rücken hinunter und rannen ihm in die Augen, während er weiterging und horchte. Ihm war bewußt, daß Seth ihm auswich, sich immer ein paar Meter vor ihm hielt. Schließlich setzte er sich auf einen umgestürzten Baumstamm und entschied, daß es einfacher wäre, den Jungen auf sich zukommen zu lassen.
Es dauerte zehn lange Minuten, in denen ihn blutgierige Moskitos umschwirrten, bis Seth endlich aus dem Dickicht erschien und sich vor ihn hin stellte.
»Ich komme nicht mit dir zurück.« Er spie die Worte beinahe aus. »Wenn du mich dazu zwingst, laufe ich nur wieder weg.«
»Ich werde dich zu gar nichts zwingen.« Von seinem Platz auf dem Baumstamm betrachtete Ethan ihn. Seth, Gesicht war schmutzig, fleckig und verschwitzt, gerötet von Hitze und Wut. Seine Arme und Beine waren von dem Dornengestrüpp übel zerkratzt.
Später würde es höllisch brennen, dachte Ethan, wenn Seth sich soweit abgekühlt hatte, daß er es spüren konnte.
»Willst du dich nicht setzen und dich mit mir aussprechen?« fragte er milde.
»Ich glaube nicht ein Wort von dem, was du zu mir sagst. Du bist ein Lügner. Ihr seid beide Lügner. Willst du mir etwa weismachen, daß ihr nicht gebumst habt?«
»Nein, das haben wir nicht getan.«
Seth stürzte sich so plötzlich auf ihn, daß Ethan den ersten Faustschlag, der ihn am Kinn traf, nicht kommen sah. Später, viel später würde er denken, daß
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