Gezeiten der Liebe
schon viel zu viele die Hand erhoben. »Vielleicht hatte ich ja Angst, daß du mich besiegst.«
Seth schnaubte und blinzelte heftig gegen die Tränen an, die ihm immer noch kamen. »Scheiße.«
»Na ja, du bist zwar klein«, fuhr Ethan fort, nahm die Mütze aus Seth’ Gesäßtasche und stülpte sie ihm auf den Kopf, »aber du bist ein ein ganz schön drahtiger kleiner Mistkerl.«
Seth mußte mehrmals tief Luft holen, als sie zum Waldrand kamen, wo die Sonne schräge weiße Strahlen auf die Bäume warf.
Er entdeckte Grace, die, wie Ethan prophezeit hatte, im Garten stand und die Arme um sich geschlungen hatte, als ob ihr kalt sei. Sie ließ sie sinken, trat vor und blieb dann stehen.
Ethan spürte, wie Seth’ Hand zuckte, und drückte sie ermutigend. »Es würde schon viel helfen, wenn du zu ihr läufst und sie umarmst«, murmelte Ethan. »Grace hat eine Schwäche für Umarmungen.«
Genau das hatte er tun wollen, aber er hatte auch Angst, es zu riskieren. Er schaute zu Ethan auf, hob eine Schulter und räusperte sich. »Ich schätze, das könnte ich tun, wenn sie sich dann besser fühlt.«
Ethan blieb stehen und beobachtete, wie der Junge den Rasen überquerte, sah, wie Grace’ Gesicht aufleuchtete und wie sie lächelnd die Arme ausbreitete, um ihn an sich zu drücken.
13. Kapitel
Wenn man an einem verlängerten freien Wochenende schon arbeiten mußte, dachte Phillip, dann sollte die Arbeit wenigstens Spaß machen. Er hing an seinem Job. Was war Werbung anderes als Menschenkenntnis, das Wissen darum, auf welche Knöpfe man drücken mußte, um irgendwelche Leute dazu zu bringen, ihre Brieftasche zu zücken.
Es war eine andere Form – eine akzeptierte, kreative, sogar allgemein erwartete Form des Taschendiebstahls, dachte er oft. Und für einen Mann, der sich die erste Hälfte seines Lebens mit Diebstahl über Wasser gehalten hatte, bot Werbung die besten Aufstiegschancen.
Heute, einen Tag vor Amerikas Unabhängigkeitsfest, brachte er seine Fähigkeiten in der Bootswerkstatt an den Mann – er umschmeichelte einen potentiellen Kunden. Was er körperlicher Arbeit entschieden vorzog.
»Sie müssen den Zustand des Gebäudes entschuldigen.« Phillip wedelte mit seiner sorgfältig manikürten Hand und umfaßte den weiten Raum, die bloßen Deckenbalken und nackten Glühbirnen, die noch ungestrichenen Wände und den verkratzten Fußboden. »Meine Brüder und ich finden, man sollte seine ganze Energie in das Produkt investieren und die laufenden Geschäftskosten auf ein Minimum beschränken. Diesen Preisvorteil geben wir selbstverständlich an unsere Kunden weiter.«
Genaugenommen an den einen Kunden, den sie im Moment hatten, dachte Phillip – und an einen zweiten, der in den Startlöchern stand, und an diesen hier, Nummer drei, der den Köder erst noch schlucken mußte.
»Hmmm.« Jonathan Kraft rieb sich das Kinn. Er war
Mitte dreißig und hatte das Glück, in der vierten Generation dem Kraft-Clan anzugehören, der in großem Stil in der pharmazeutischen Industrie mitmischte. Seit den bescheidenen Anfängen seines Urgroßvaters als kleiner Apotheker in Boston hatte seine Familie auf der Basis von Kopfschmerztabletten und Analgetika ein Firmenimperium errichtet. Deshalb sah Jonathan sich in der glücklichen Lage, ungehindert seiner großen Liebe zum Segelsport frönen zu können.
Er war groß, fit, sonnengebräunt, sein Haar nerzbraun und perfekt gestylt, so daß es sein attraktives markantes Gesicht zur Geltung brachte. Heute trug er eine braune Hose, ein dunkelblaues Baumwollhemd und abgenutzte hohe Turnschuhe. Am Arm glänzte eine teure Rolex, sein Gürtel bestand aus handgeprägtem italienischem Leder.
Sein Aussehen spiegelte die Rolle wider, in die er hineingeboren war: ein privilegierter, reicher Mann, der sich gern im Freien aufhielt.
»Ihr seid erst seit ein paar Monaten im Geschäft?«
»Offiziell, ja«, sagte Phillip und lächelte charmant. Sein Haar hatte einen intensiven Bronzeton, und seine Frisur betonte ein Gesicht, das die Glücksgöttin dazu ausersehen hatte, die Ideale männlicher Schönheit zu verkörpern. Er trug modisch verwaschene Jeans, ein grünes Hemd und olivgrüne Stiefel. Sein Blick wirkte gerissen, sein Lächeln anziehend.
Alles in allem spiegelte sein Aussehen wider, was er aus sich gemacht hatte: einen kultivierten Stadtmenschen mit einer Schwäche für modische Kleidung und Liebe zur See.
»Wir bauen seit Jahren Boote in wechselnden Teams.« Gewandt führte er
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