Gezeitengrab (German Edition)
dunklen Kleidung und seiner düsteren Miene passt er eigentlich gar nicht in das kleine behagliche Zimmer. Und offenbar will er diesen Eindruck selbst noch verstärken, denn er spricht in energischem, geschäftsmäßigem Ton, ohne irgendwen anzuschauen.
«Ich fahre Sie jetzt nach Hause, Clara. Die Straßen hier sollten Sie sich lieber nicht zumuten.»
«Du könntest mich auch mitnehmen», sagt Cathbad, der sich gerade eine Scheibe Toast von Judys Teller genommen hat.
«Nein», erwidert Nelson schroff. «Du fährst mit Johnson.»
Jetzt bin ich also wieder Johnson, denkt Judy. Aber immerhin hat der Boss sich bei ihr bedankt, als er vorhin angerufen hat. Sie ist Clough einen Schritt voraus, das steht fest.
«Ich fahre dich heim, Cathbad», sagt sie, ohne ihn anzusehen.
Nelson und Clara gehen zur Tür. Ruth dankt ihr noch einmal überschwänglich, um den gestrigen Mangel an Vertrauen wieder wettzumachen. Nelson schweigt.
Judy greift ebenfalls nach Tasche und Handy. «Kommst du, Cathbad?»
«So eilig braucht ihr’s jetzt aber auch nicht zu haben», meint Ruth. Sie fände es ganz schön, noch ein Weilchen mit Judy und Cathbad hier zu sitzen, Toast zu essen und sich über die wundersame Kate zu unterhalten.
«Wir müssen los», sagt Judy. «Ich habe noch jede Menge zu tun.»
«Klar, die Hochzeit ist ja in zwei Wochen.» Ruth versucht, nett zu sein. «Du bist sicher schon ganz aufgeregt.»
«Ja, meinst du?», erwidert Judy – etwas unhöflich, wie Ruth findet.
Kaum sind Cathbad und Judy aus der Tür, fängt Kate an zu brüllen. Nachdem sie offenbar die ganze letzte Nacht der reinste Engel war – «Sie ist nur einmal aufgewacht», hat Cathbad berichtet, «aber ich habe sie wieder in den Schlaf gesungen» –, verwandelt sie sich jetzt in das Horrorkind Damien aus Das Omen . Ruth versucht alles: Milch, Essen, durchs Zimmer tanzen, singen. Doch ihre Sangeskünste können es mit denen von Cathbad offenbar nicht aufnehmen, denn schon nach den ersten paar Takten von «Ein Männlein steht im Walde» brüllt Kate noch lauter als vorher. In ihrer Verzweiflung schaltet Ruth den Fernseher ein und lässt Kate auf dem Arm auf und ab wippen, während sie mit der Fernbedienung hantiert. Sie zappt zwischen ernsten Sonntagspredigten und alten Schwarz-Weiß-Filmen hin und her, auf der Suche nach etwas Passendem für Kleinkinder. Schließlich hört Kate auf zu weinen und starrt wie gebannt auf den Bildschirm, der eine grüne Rasenfläche zeigt, wo kleine Gestalten wie verrückt herumrennen. Ruth hätte es ahnen können. Offenbar hat Kate das Fußballgen von ihrem Vater geerbt. Noch etwas, was man ihm vorwerfen könnte. Doch Ruth ist viel zu froh über die Stille, um sich groß zu ärgern. Sie macht es sich auf dem Sofa bequem, lehnt Kate an ihre Schulter und schaut sich das Spiel Manchester United gegen Chelsea an.
So findet Tatjana sie zehn Minuten später.
«Ich wusste ja gar nicht, dass du Fußball-Fan bist, Ruth.»
«Tatjana!»
Tatjana hat rote Wangen und wirkt beschwingt. Sie trägt noch ihre Arbeitskleidung – ein elegantes, maßgeschneidertes Kostüm und einen langen schwarzen Mantel – und hat eine Aktentasche in der Hand.
«Wo bist du denn gestern abgeblieben?», fragt Ruth. «Du hast auf keine meiner SMS geantwortet.»
«Ich hatte keinen Empfang.» Tatjana stellt ihre Tasche ab und streicht Kate beiläufig mit einem Finger über die Wange. Kate lässt den Blick keine Sekunde vom Fußballspiel.
«Wo hast du denn geschlafen?», fragt Ruth.
«Bei Bekannten von der Uni. Der Schnee kam so plötzlich, und ich habe gehört, die Straßen sind unbefahrbar.»
«Das war auch so. Ich war in Sea’s End House eingeschneit.»
«Im Ernst? Und wer hat auf die Kleine aufgepasst?»
«Clara. Weißt du noch? Sie war auf der Namensweihe.»
Tatjana reißt die Augen auf. «Die Blonde, die mit dem Deutschen gekommen ist? Aber die kennst du doch kaum.»
Ruth ist gekränkt. Sie rechnet ohnehin ständig damit, als Mutter kritisiert zu werden. Und jetzt ist sie noch empfindlicher, weil sie die Gelegenheit, Kate bei einer vergleichsweise Fremden zu lassen, so schnell ergriffen und deswegen ein schlechtes Gewissen hat.
«Sie ist eine sehr nette junge Frau.»
«Ist ihr Freund nicht gerade ermordet worden?»
«Du willst doch hoffentlich nicht andeuten …», ereifert sich Ruth.
«Ich will überhaupt nichts andeuten», sagt Tatjana. «Kaffee?»
Während Tatjana Kaffee macht, herrscht unbehagliches Schweigen. Kate sieht immer
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