Gezeitengrab (German Edition)
Messe, auch wenn sie am nächsten Tag wieder in Mammys Garten Schlange standen.»
Judy versucht, sich Cathbad als Kind vorzustellen. Er wirkt irgendwie alterslos. «Mein Vater ist auch Ire», sagt sie. «Er ist Buchmacher.»
«Das erklärt die Verbindung zwischen uns.»
«Ist denn da eine Verbindung zwischen uns?»
«Ich finde schon. Du nicht?»
Judy bewegt die Beine und versucht, Cathbad dabei nicht zu berühren. Dieses Zimmer ist einfach viel zu klein. Es wird sekündlich kleiner.
«Willst du jetzt schlafen?», fragt Cathbad.
Es ist, als hätte er eine völlig andere Frage gestellt. Judy hat mit der Antwort zu kämpfen.
«Ja», sagt sie schließlich.
Einige Zeit später schreckt sie aus einem wirren Traum hoch, in dem es um Eisschollen, vermummte Gestalten und heilige Feuer ging. Sie tastet auf dem Boden nach ihrer Uhr. Fünf Uhr früh.
Draußen auf dem Treppenabsatz ist alles still. Von Clara unten ist kein Mucks zu hören. Plötzlich lassen leise Schritte sie zusammenfahren, und etwas streicht ihr um die Beine. Judy unterdrückt einen Schrei, doch als sie nach unten schaut, blickt sie in zwei leuchtend grüne Augen. Herrje, sie hat ganz vergessen, dass Ruth eine Katze hat. Mit zitternder Hand streicht sie Flint über den Kopf. Wo hat er sich bloß die ganze Zeit versteckt?
Im Schlafzimmer schläft Kate immer noch und schnaubt dabei leise vor sich hin. Cathbad liegt quer im Doppelbett. Im Schlaf sieht er sehr viel jünger aus.
«Cathbad?»
Er ist sofort hellwach.
«Du hast deinen Bart abrasiert.»
Cathbad greift nach ihr und zieht sie zu sich auf das Bett. Er ist stark, sehr viel stärker, als er aussieht, und riecht nach Holzfeuer und teurer Seife.
«Das geht nicht», sagt Judy. «Ich heirate in zwei Wochen.»
«Es war vorbestimmt.» Cathbad küsst sie auf den Hals.
An so was glaube ich nicht, will Judy sagen. Ich bin ein Verstandesmensch, ich bin Polizistin, und ich habe bisher nur mit einem einzigen Mann geschlafen. Doch stattdessen küsst sie ihn ebenfalls, gierig, hungrig, und drängt ihren Körper an seinen.
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25
Als Ruth aufwacht, ist es fast neun Uhr. Die Vorhänge sind offen, Licht durchflutet das Zimmer. Von Nelson ist nichts zu sehen. Mit der Bettdecke um die Schultern steht sie auf und geht ans Fenster. Draußen ist der Himmel strahlend blau, der Schnee blendend weiß. Auf dem Steilpfad zum Strand, wo die Wellen sanft über die verschneiten Kiesel schwappen, sind keine Fußspuren zu sehen. Immer noch in die Bettdecke gehüllt, geht Ruth ins Bad. Vom dortigen Fenster aus, das auf die eine Hausseite hinausgeht, sieht sie Nelson, der ohne Mantel den Schnee rund um sein Auto wegschippt. Versonnen beobachtet sie ihn, ohne einen konkreten Gedanken zu fassen. Er strengt sich an, sein Atem weht ihm in Schwaden um den Kopf, aber er macht es ganz falsch, weil er den Rücken beugt und nicht die Knie. Das ist ihr schon einmal aufgefallen. Wann noch gleich?
Wie ist sie bloß wieder mit ihm im Bett gelandet? Nachdem sie sich solche Mühe gegeben hat, Abstand zu halten, unabhängig zu bleiben, seine Ehe nicht zu gefährden! Vielleicht ist sie ja wieder schwanger. Wahrscheinlich machen sie jetzt einfach so weiter, schlafen einmal im Jahr miteinander, und in ein paar Jahren haben sie dann fünf Kinder. Sei nicht albern, ermahnt sie sich. Es ist ziemlich ausgeschlossen, dass sie wieder schwanger ist, und die letzte Nacht war eine einmalige Sache. Noch eine. Der Schnee war schuld, das Haus, die Erleichterung darüber, dass Kate nichts zugestoßen ist. Ein Zusammentreffen von Umständen, die es so nicht noch einmal geben wird. Ruth kann ihr Leben einfach weiterführen. Sie lehnt die Stirn an die Scheibe, ihr Atem beschlägt das Glas.
Während sie noch hinausschaut, kommt noch jemand aus dem Haus. Jack Hastings. Er ist gut eingepackt in einen schweren Wintermantel und eine Tweedkappe, und die unvermeidlichen Hunde springen um ihn herum. Er sagt etwas zu Nelson, und Nelson lacht, dass es bis zu Ruths Turmfenster hinaufschallt. Sie geht vom Fenster weg. Die Männer sollen sie nicht dort oben sehen, wie ein übergewichtiges Turmfräulein. Es wird Zeit, in die Gänge zu kommen.
Sie ruft Judy an. Es dauert lange, bis sie sich meldet, und sie klingt ausgesprochen seltsam, irgendwie durcheinander, gar nicht so, wie man sie kennt. Besorgt fragt Ruth, ob mit Kate alles in Ordnung ist. Ja, sagt Judy, alles bestens. Cathbad füttert sie gerade. Dann ist Cathbad also auch noch da? Ja, es
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