Gezeitengrab (German Edition)
noch hingerissen den Fußballern zu. Als Chelsea ein Tor schießt, gluckst sie begeistert. Ruth ist sich nicht ganz sicher, wie Nelson das fände. Sollte sie vielleicht aufstehen und Tatjana mit dem Kaffee helfen? Aber es ist das erste Mal in den zwei Wochen, dass Tatjana etwas in der Küche macht. Was hat sie mit dieser Andeutung über Clara gemeint? Dass Ruth sie in der Dunkelheit von Sea’s End House verdächtigt, geht ja noch an, aber dass Tatjana behauptet, sie könnte etwas mit Dieters Ermordung zu tun haben, das geht nun wirklich zu weit. Wahrscheinlich hat Ruth ihr einfach zu viele Fragen über die letzte Nacht gestellt. Tatjana ist schließlich ein freier Mensch.
Und so sagt sie versöhnlich, als Tatjana ihr einen Becher Kaffee reicht: «Danke, Tatjana. Es war wirklich schön, dich hier zu haben.» In zwei Tagen wird sie wieder abreisen.
«Mir hat es auch sehr gefallen», erwidert Tatjana höflich. «Es war schön, dich wieder besser kennenzulernen. Und Kate.»
Sie schauen beide auf Kate, die in Ruths Arm eingeschlafen ist. Die Fußballer spielen unbeachtet weiter. Ruth trinkt von ihrem Kaffee und hält den Becher sorgsam vom Kopf der Kleinen fern. Plötzlich beugt Tatjana sich mit eindringlicher Miene vor.
«Mach das Beste aus der Zeit mit ihr, Ruth», sagt sie. «Freu dich an ihr. Es geht so schnell vorbei.»
«Das mache ich.» Ruth schnürt es die Kehle zu.
«Ich hatte Jakob nur ein paar kurze Jahre», sagt Tatjana leise. «Heute wünsche ich mir, ich hätte jede Sekunde dieser Zeit mit ihm verbracht.»
Ruth treten die Tränen in die Augen. «Das konntest du doch nicht wissen.»
«Nein», sagt Tatjana. Sie weint nicht, und in ihrem Gesicht liegt wieder etwas von der leidenschaftlichen Intensität, die Ruth von dem Abend im Pinienhain im Gedächtnis geblieben ist. «Keiner kann so etwas wissen. Keiner von uns kann jemals wissen, was passieren wird. Und deshalb, Ruth: Pass auf dein Baby auf. Es ist das Wichtigste überhaupt.»
Den ganzen Sommer über fragten Tatjana und Ruth jeden, den sie trafen, nach dem kleinen Jungen, nach seinen Großeltern und dem verwüsteten Dorf. Als sie zufällig ein paar Leute aus dem Süden, aus der Gegend um Trebinje, kennenlernten, geriet Tatjana völlig außer sich, hielt wildfremden Menschen das Foto von Jakob unter die Nase, weinte und flehte sie an, ihr zu helfen. Dann wieder war sie ruhig, fast nüchtern. Immer wieder erzählte sie Ruth die Geschichte, die man ihr erzählt hatte: die brennenden Häuser, die Alten und die Kinder, die sich in einer Reihe aufstellen mussten und glaubten, sie würden verschont, dann die Schüsse, die Schreie, die Leichen, die in flachen Gräbern verscharrt wurden, um jederzeit wieder ausgegraben und sonst wohin gebracht zu werden. Ruth war Tatjanas einzige Vertraute, und manchmal fürchtete sie, die Last von so viel Schmerz selbst nicht ertragen zu können.
Einmal hat sie sogar versucht, mit Erik darüber zu reden. Natürlich wollte sie Tatjanas Geheimnis nicht verraten, aber sie brauchte dringend Rat, und bei wem sollte sie den finden, wenn nicht bei Erik, ihrem Mentor und Freund?
Es war nicht leicht, ihn zu erwischen. Im Lauf der Wochen verbrachte Erik seine Zeit zunehmend damit, gegen die Behörden zu kämpfen, meistens gemeinsam mit einer bosnischen Politikerin namens Dragana – viel später sollte Ruth dieses Verhältnis noch einmal in neuem Licht betrachten. Es war immer dieselbe alte Geschichte. Die diversen Regierungen wollten einfach nur, dass die Gräber ausgehoben wurden, Erik wollte mehr Zeit für forensische Tests und Datenbankrecherchen, um so viele Opfer wie möglich zu identifizieren. Er erinnerte immer mehr an eine Art Prophet mit wildem Blick und wildem Haar, der davon predigte, wie wichtig es war, die Toten zu kennen, ihnen Namen zu geben.
Doch dann, eines Abends, traf Ruth ihn ganz zufällig. Es gab kein fließendes Wasser im Hotel, und so holten sie reihum eimerweise Wasser aus dem Fluss, der durch die Stadt floss. Das Wasser war sehr klar, die Anwohner sagten, es käme direkt aus dem Gebirge, doch die Archäologen wollten kein Risiko eingehen, und so wurde alles bis auf den letzten Tropfen mehrfach abgekocht. Ruth war gerade dabei, ihre Eimer zu füllen, sie stand bis zu den Knien im Wasser und genoss die Kühle an ihren müden Beinen, da sah sie Erik am Ufer sitzen und Steine in das schnell dahinfließende Wasser werfen.
«Fast wie Pu-Stöckchen», sagte sie.
Erik lächelte sie verständnislos an.
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