Gezeitengrab (German Edition)
hat schließlich auch auf dem Salzmoor heftig geschneit. Und was ist mit Clara? Die kocht Tee. Ruth bittet Judy, bei Kate zu bleiben, bis sie wieder da ist, und verspricht ihr, sich zu beeilen.
Sie duscht in der Badewanne und wäscht sich mit einem übertrieben parfümierten Shampoo die Haare. Es ist sehr unangenehm, danach wieder dieselben Kleider anziehen zu müssen. Was hat Nelson noch gleich zu ihr gesagt? «Ich krieg dich einfach nicht aus dem Kopf, Ruth. Ich versuch’s, aber du bist einfach immer da.» Sie weiß selbst nicht, was sie für Nelson empfindet. Das ist alles so kompliziert, so angstbesetzt. Aber eines weiß sie: Als er das gesagt hat, wurde sie von einer Welle reinster Freude durchströmt. Sie weiß, dass Nelson sie nicht liebt, aber immerhin kann er sie nicht vergessen. Das ist doch schon mal etwas.
Das Frühstück wird eine unbehagliche Angelegenheit. Nelson meidet Ruths Blick, Stella brät Speck und Eier und plaudert in einem fort, wie es sich für eine gute Gastgeberin gehört. Jack schweigt und füttert die Hunde mit Speckschwarten. Und Irene zeigt sich gar nicht erst. «Mutter hatte eine schlechte Nacht», erklärt Stella.
«Jack hat ein paar Schneeketten für meinen Wagen aufgetrieben», sagt Nelson zu Ruth, immer noch ohne sie anzusehen. «Und die Küstenstraße ist wieder frei. Wir müssten ganz gut durchkommen.»
«Was ist mit meinem Wagen?»
«Den kannst du hierlassen. Ich schicke jemanden, der ihn für dich abholt. Das Wichtigste ist erst mal, dass wir dich wieder nach Hause kriegen.»
«Stimmt», sagt Ruth.
«Wir sollten möglichst bald aufbrechen.»
«Aber erst trinken Sie noch einen Kaffee.» Stella nimmt die Kanne vom Herd.
Ruth hat merkwürdig wenig Lust, wieder zu fahren. Natürlich will sie Kate sehen, keine Frage, doch gleichzeitig möchte sie hierbleiben, wo jemand für sie kocht und ihr Kaffee macht. Sie möchte am Kamin sitzen und Zeitung lesen. Sie möchte sich auf dem Sofa zusammenrollen und den Schnee draußen betrachten. Sie möchte Stellas Tochter sein. Sie möchte mit Nelson hierbleiben.
Doch kaum hat Nelson seinen Kaffee ausgetrunken, steht er auch schon auf. «Vielen Dank für die Gastfreundschaft», sagt er förmlich.
«Aber ich bitte Sie, mein Lieber», erwidert Jack.
Ruth überlegt, ob es Nelson nach dieser Anrede wohl schwerer fallen wird, auf die unwichtige kleine Tatsache zurückzukommen, dass Jacks Vater ein Mörder war. Sie weiß, dass Nelson den Film schon im Auto hat und außerdem Claras Tagebuch und die Schere. Sein nächster Besuch in Sea’s End House wird sich vermutlich recht anders gestalten. Doch Hastings, den Hugh Anselms Film tags zuvor noch so erschüttert hat, gibt sich charmant und bester Laune. Er drückt Ruth herzlich die Hand und tut auch ihren Dank ab. «Aber das ist doch selbstverständlich, mein Kind. Schön, dass wir helfen konnten.»
Ruth dreht sich zu Stella um. «Das war alles so lieb von Ihnen.»
Stella umarmt sie. «Kommen Sie bald wieder. Und bringen Sie Ihre Kleine mit.»
«Das mache ich.»
«Komm schon, Ruth.» Nelson ist wie immer ungeduldig. «Wir müssen los.»
Es ist eine wunderschöne Fahrt zurück zum Salzmoor. Die weißen Felder glitzern in der Sonne, die Bäume sehen aus wie auf einer Weihnachtskarte. Alle unansehnlichen Alltagselemente – die städtische Müllhalde, die Ferienappartments, der Hamburger-Wagen – sind unter einer gnädigen Schicht Magie verschwunden. Kaum vorstellbar, dass der Schnee noch am Abend vorher so bedrohlich wirkte wie eine bösartige Macht. Jetzt denkt man nur noch an Schlittenfahrten, an den Weihnachtsmann und Holiday on Ice. Sie sehen Jugendliche, die auf Müllsäcken einen Hang hinunterrutschen, Kinder, die im Vorgarten einen Schneemann bauen, und eine Familie auf dem Weg zur Messe, mit tugendhaft rot gefrorenen Nasen. Ruth hat ganz vergessen, dass Sonntag ist. Sie sehen auch ein paar liegengebliebene Autos und ein umgekipptes Fahrrad, dessen Räder sich noch drehen, doch abgesehen davon wirkt der Schnee freundlich, als wäre er nur zum Spaßhaben da. Die Hauptstraßen sind geräumt und gestreut, und als sie sich King’s Lynn nähern, begegnen ihnen auch wieder Busse und andere Autos. Die Welt kehrt zum Normalzustand zurück.
«Es taut», sagt Nelson. Sein erster Satz seit gefühlten Stunden.
«Unfassbar», sagt Ruth. «So viel Schnee im April!» Ihr Mund fühlt sich trocken an, und sie ist sich sicher, noch nie im Leben einen derart langweiligen Satz gesagt zu
Weitere Kostenlose Bücher