Gezeitengrab (German Edition)
wenn er an einem Sonntag aufs Revier fährt. Außerdem kann er eine Dusche und eine Mütze Schlaf brauchen.
Eigentlich wünscht er sich nichts sehnlicher, als nach Hause zu fahren und eine Woche durchzuschlafen. Er will seine Frau in den Arm nehmen und in süßes, schuldloses Nichtwissen hinübergleiten. Dummerweise plagen ihn die Schuldgefühle allerdings dermaßen, dass er das Gefühl hat, Michelle nicht einmal mehr in die Augen sehen zu können. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass er seine Frau einmal betrogen und mit einer anderen geschlafen hat und dass diese andere ein Kind von ihm zur Welt gebracht hat – jetzt musste er es auch noch wieder tun. Und würde es zu allem Überfluss noch einmal machen, wenn er die Gelegenheit bekäme. Das weiß er jetzt. Ruth hat Macht über ihn, nicht nur als Mutter seines Kindes. Letzte Nacht wollte er mit ihr schlafen. Als sie bei Kerzenlicht an Jack Hastings’ Tisch saßen, hat er sich sogar vorgestellt, wie es wäre, mit ihr verheiratet zu sein. Verheiratet mit einer so klugen, bemerkenswerten Frau wie Ruth, die Seite an Seite mit ihm arbeitet, ihn versteht, ihn ergänzt, ihn erfüllt. Wenn er an Michelle denkt, kommt ihm immer als Erstes ihre Schönheit in den Sinn. Auch nach neunzehn Jahren Ehe ist er gegen ihr Aussehen nicht immun. Ihr Gesicht kann ihm immer noch den Atem rauben, und wenn er ehrlich ist, gefällt es ihm auch sehr, eine so glamouröse Frau zu haben. Wäre er mit Ruth verheiratet, würde kein Mensch mehr in halb bewunderndem, halb neidischem Ton von seiner «Vorzeigefrau» reden. Keiner würde mehr sagen: «Was findet sie bloß an ihm?» – ein Kommentar, der ihn jedes Mal von neuem seltsam stolz macht. Aber er fühlt sich zu Ruth hingezogen, das lässt sich nicht wegreden. Und als er sie gestern Abend über den Tisch hinweg betrachtete, da fand er sie wunderschön, mit ihren vollen Lippen, um die ein Lächeln spielte, dem weichen, unfrisierten Haar. Er hat sie begehrt, und sosehr er es auch auf den Schnee schiebt, auf die Abgeschiedenheit und die Angst um Kate, war das doch der eigentliche Grund, warum er sie auf Claras Bett an sich gezogen hat. Er ist an allem selbst schuld.
«Es wird nicht wieder vorkommen», hat Ruth gesagt. Heißt das, sie will nicht, dass es wieder vorkommt? Schon vor seiner Ehe war Nelson nie ein Mann, der sich groß Gedanken darüber gemacht hat, ob eine Frau in ihn verliebt ist oder nicht. Wenn ihm eine Frau gefiel, fragte er sie, ob sie sich mit ihm treffen würde, und wenn sie ja sagte, ging er davon aus, dass er ihr auch gefiel. Falls nicht: selber schuld. Auch bei Michelle gab es keine langen Zweifel. Er hatte sich sofort in sie verliebt, als er sie im Süßwarenladen in Blackpool zum ersten Mal sah. Michelle war mit ihrer kleinen Schwester dort und kaufte knallbunte Bonbons für deren Kindergeburtstag. Nelson war mit einem Freund unterwegs, um etwas Witziges für einen Junggesellenabend zu suchen. Sie kamen ins Gespräch, und Nelson fragte Michelle nach ihrer Telefonnummer, ohne auf das Augenverdrehen des Freundes oder das Kichern der kleinen Schwester zu achten. «Die ist ’ne Nummer zu groß für dich, Kumpel», meinte sein Freund, als sie mit einer fiesen, phallusartigen Zuckerstange den Laden verließen. Doch Nelson konnte diese Ansicht nicht teilen. Immerhin hatte sie ihm ja ihre Nummer gegeben. Und er behielt recht. Ein halbes Jahr später heirateten sie.
Er kann also irgendwie nicht richtig beurteilen, ob Ruth in ihn verliebt ist. Der Sex ist großartig, das muss er zugeben. Und durch Kate sind sie auf ewig aneinander gebunden. Aber Liebe? Er will das Wort gar nicht aussprechen, nicht mal vor sich selber. Er weiß nur, dass er manchmal der Phantasie nachhängt, er könnte sie beide haben, die schöne Ehefrau und die schlaue Geliebte, und sich sowohl an seinen halberwachsenen Töchtern als auch an dem wundersamen Baby freuen. Aber so läuft das Leben nicht, das ist ihm klar. Nelson ist katholisch aufgewachsen. Er weiß, dass ihm demnächst eine gewaltige kosmische Strafe bevorsteht. Wenn er Glück hat, denkt er, als er müde in seine Garageneinfahrt einbiegt, schafft er es vorher wenigstens noch, den Fall abzuschließen.
Als er die Tür aufschließt, schlägt ihm ein köstlicher Duft entgegen, der Duft seiner Kindheit, so voller Erinnerung, dass ihm auf der Stelle das Wasser im Mund zusammenläuft und die Augen feucht werden. Michelle kommt aus der Küche, eine Schürze über ihrem
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