Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
Vom Netzwerk:
Anselm zu sehen, so ernst, so gequält, so verdammt jung. Nelson neigt sonst nicht zu solchen Phantastereien, aber als er den Film sah, hatte er das seltsame Gefühl, als spräche Hugh direkt zu ihm. Erzähl den Leuten davon , schien er zu sagen. Lass nicht zu, dass es wieder passiert. Finde meinen Mörder.
    Hugh Anselms Unterlagen gehen zurück bis etwa 1960. Sie enthalten nichts über die Morde und, soweit Nelson das sehen kann, auch nur wenig über die Home Guard. Ab 1960 hat Hugh Anselm ein Tagebuch geführt, das um die zwanzig dicke Schulhefte umfasst. Er hat nicht jeden Tag geschrieben, und das meiste dreht sich um Politik. Er setzte große Hoffnungen in John F. Kennedy und Harold Wilson, doch in beiden Fällen kam die Ernüchterung sehr schnell. Sein Vertrauen in Kennedy wurde durch die Schweinebucht erschüttert, und die spätere Ermordung des Präsidenten war aus Hugh Anselms Sicht «eine Tragödie – aber vielleicht ist es besser, ihn so in Erinnerung zu behalten? Sonst hätte seine Amtszeit doch nur aus einem Wirrwarr aus Skandalen und nicht gehaltenen Versprechungen bestanden.» Wilson bewunderte er, weil er auch während des Vietnamkriegs zu Amerika hielt, und vor allem, weil er die Open University begründete – Anselm war ein großer Verfechter höherer Bildung und hat selbst ständig Seminare besucht. Doch am Ende gelangte er zu der Ansicht, Wilson habe «die Arbeiter betrogen». Aber Anselms größte Verachtung gilt Margaret Thatcher. Seitenweise lässt er sich über ihre Boshaftigkeit und ihren Mangel an Mitgefühl aus und sogar über ihre Frisur – «scheußlich, wie ein Helm» – und ihre Stimme, die nur so «vor Unaufrichtigkeit trieft». Nelson fragt sich, was wohl der Grund war: dass Thatcher die Konservativen vertrat oder dass sie eine Frau war? Unter Anselms glühendem Sozialismus meint er ein gewisses Maß Versnobtheit und Frauenfeindlichkeit wahrzunehmen, die ihn über Shirley Williams’ Kleidungsstil klagen und wünschen lässt, Tony Benn hätte seinen Titel nie abgegeben.
    Über Anselms Privatleben erfährt man kaum etwas. Seine Frau Anne wird hauptsächlich im Zusammenhang mit ihren politischen Meinungen erwähnt: «Anne hat eine fatale Schwäche für David Owen.» – «Anne ist der Meinung, dass auch Thatcher normale mütterliche Gefühle besitzt – was ich bezweifle.» Ein paarmal kommt auch sein Bruder Stephen vor – «Stephen ist ein Tory, wie er im Buche steht» – und einmal auch seine Nichte Joyce: «… furchtbare Frau». Das einzig wirklich Interessante sind zwei Briefe, offensichtlich Entwürfe, die ganz hinten im Ordner stecken.
    Der erste ist ein Brief an Archie Whitcliffe:
    Lieber Archie (am liebsten würde ich Archibald schreiben, nur um zu sehen, wie du zuckst!),
    du wunderst dich wahrscheinlich, nach so vielen Jahren wieder von mir zu hören. Ich hoffe, diese Jahre waren so gut zu dir, wie sie es zumindest teilweise zu mir waren. Den Anlass, dir zu schreiben, gibt mir ein Artikel über einen gewissen Gerald Whitcliffe, der zum Superintendent der Polizei ernannt wurde. Eine kurze Internet-Recherche (eine wunderbare Erfindung – bist du auch «online»?) bestätigte mir, dass dieser Überflieger tatsächlich dein Enkel ist. Wie stolz du sein musst, lieber Archie, und was für ein Glück, Enkel zu haben. Meine Frau und ich waren nie mit Kindern gesegnet, und im vergangenen Jahr ist meine liebe Anne verstorben.
    Vielleicht ist ja dieses traurige Ereignis der Grund, der mich dazu führte, wieder mehr über die Vergangenheit nachzudenken. Ich stelle fest, dass ich inzwischen mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebe. Und das löst ein großes Verlangen in mir aus, dich, meinen alten Kameraden, einmal wiederzusehen. Nicht um über – das nächste Wort ist nachdrücklich durchgestrichen – zu reden, sondern einfach nur, um wie zwei alte Freunde in Erinnerungen zu schwelgen. Wäre es nicht an der Zeit? Vielleicht hast ja auch du einen Brief von Daniel bekommen? Das hat so viel zurückgebracht …
    An dieser Stelle bricht der Brief ab und bleibt unvollendet. Ob er je eine fertige Fassung verschickt hat? Ob die beiden alten Freunde sich wiedergesehen haben? Nichts in den Unterlagen weist darauf hin.
    Der zweite Brief richtet sich an Irene Hastings:
    Liebe Irene,
    wie schön, Sie nach all den Jahren wiederzusehen! Ich habe unseren gemeinsamen Vormittag sehr genossen. Herzlichen Dank für Ihr Beileid zum Tod meiner lieben Anne. Sie wissen ja am besten von

Weitere Kostenlose Bücher