Gezeitengrab (German Edition)
ihren eigenen kleinen Kreis aus Licht, doch von ihrem Aussichtspunkt kann Maria über sie alle wachen. Manchmal konzentriert sie sich auf eine einzelne Person, eine Frau, die schwere Einkaufstaschen schleppt, oder einen bleichen jungen Mann, der an der Zapfsäule mit seinem Kleingeld spielt, und spricht ein Gesätz des Rosenkranzes nur für sie. Sie werden natürlich nie davon erfahren, doch Maria macht es trotzdem glücklich.
Heute allerdings fühlt sie sich überhaupt nicht sicher und geborgen, sondern aufgescheucht und unbehaglich. Und sie weiß auch, warum. Weil dieser Polizist, Nelson, wieder hier war und ihr Fragen gestellt hat. Maria mag Polizisten nicht. Sie hat immer die Befürchtung, dass sie ihr George wegnehmen könnten, wenn sie sehen, wie sie lebt, wie wenig Geld sie hat. Bevor er gegangen ist, wollte Nelson ihr fünf Pfund geben, damit sie George ein Geschenk kaufen kann. Sie hat fast schon rüde abgelehnt. Auch wenn sie nur ein unwissendes Mädchen von den Philippinen ist, weiß sie doch, dass man von einem Mann nie Geld annehmen darf und von einem Polizisten erst recht nicht. Den Fehler hat sie schon einmal gemacht, mit Georges Vater, als sie gerade ein paar Monate in England war. Das wird ihr nicht wieder passieren.
Mit Archie war es anders. Natürlich war er alt, alt genug, um ihr Großvater zu sein, das hat er selbst oft gesagt. Aber manchmal hat er überhaupt nicht alt gewirkt. Vor allem seine Stimme war noch kräftig und klangvoll, nicht dünn und kleinlaut wie bei den alten Leuten, die sie von zu Hause kennt. Archie redete immer noch wie ein Soldat. Manche der anderen Pfleger haben das nicht gemocht; sie fanden ihn zu herrisch, zu eingebildet. Doch Maria gefällt es, wenn Männer sich auch wie Männer benehmen. Ihr hat es nichts ausgemacht, wenn Archie ihr sagte, was sie tun soll: Er war schließlich älter als sie. Und sie haben sich immer nett unterhalten, wenn sie abends noch in seinem kleinen Zimmer saßen. Sie sprachen über George, über die Pläne, die Maria für ihn hat. Wenn er groß war, würde er ein bedeutender Mann werden, so wie sein Vater, und große Dinge vollbringen. Auch Archie war ein bedeutender Mann, davon ist Maria überzeugt. Und deswegen war es ja so falsch, dass er abberufen wurde, einfach so, mitten in der Nacht. Dorothy hat gemeint, sie sollten nicht mehr darüber reden, aber Maria weiß, was sie denkt. Es war falsch. Gott hat es nicht so gewollt.
Sogar die Tankstelle ist heute Abend anders. Normalerweise ist sie Maria ein großer Trost, weil sie rund um die Uhr geöffnet hat und der kleine Laden wie eine Fackel der Hoffnung durch die Nacht strahlt. Doch heute kommen anscheinend gar keine Autos, und nur neben dem Reifendruckmessgerät steht eine einzelne Gestalt in einem langen schwarzen Mantel. Das gefällt Maria nicht. Sie weiß, dass man sich ohne Auto eigentlich nicht an Tankstellen aufhalten darf, doch dieser Mensch ist jetzt schon mindestens zwanzig Minuten da und steht einfach nur herum, ohne in den Laden zu gehen oder sonst etwas zu tun. Er wartet, und keiner sieht ihn, außer ihr. Maria geht vom Fenster weg, um nach George zu sehen. Als sie wiederkommt, steht die Gestalt immer noch da. Ist es ein Mann oder eine Frau? Sie kann es nicht erkennen. Die Person trägt einen langen Mantel und eine Wollmütze, die das Haar verbirgt, und auch vom Körper sieht man nichts. Maria schaut noch ein paar Minuten hinunter, dann geht ihr plötzlich die schreckliche Wahrheit auf. Nicht sie beobachtet die Gestalt. Die Gestalt beobachtet sie.
Obwohl er todmüde ist, kann Nelson nicht einschlafen. Michelle ist schon im Bett, und Rebecca schaut im Wohnraum irgendeine Musiksendung. Nelson sitzt im Arbeitszimmer und sieht Hugh Anselms Unterlagen durch. Er weiß weder, wieso er das tut, noch, was er zu finden hofft. Er weiß nur, dass er dringend einen Schritt weiterkommen muss. Kann Irene, die nach seiner Schätzung über neunzig sein muss, tatsächlich drei Menschen umgebracht haben, um den guten Namen ihres Mannes zu schützen? Das ist gelinde gesagt unwahrscheinlich. Sie hätte es sicherlich geschafft, Hughs Treppenlift anzuhalten, und womöglich auch noch, Archie zu ersticken – aber Dieter Eckhart erstechen, einen kräftigen jungen Mann im besten Alter? Auf keinen Fall. Ob das jemand für sie übernommen hat? Jack beispielsweise oder sogar Clara?
Er muss sich den Film noch einmal anschauen, aber das bringt er heute nicht mehr fertig. Er kann es nicht ertragen, Hugh
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