Gezeitengrab (German Edition)
Designer-Jogginganzug.
«Ich dachte, ich mache heute mal einen Braten», sagt sie. «Es ist so kalt draußen.»
Nelson küsst die duftende Wange seiner Frau. Über ihre Schulter hinweg sieht er Rebecca, die doch tatsächlich den Tisch deckt. Das Licht spiegelt sich in den Gläsern, dem Besteck und den passenden Platzdeckchen, die Landschaftsszenen aus Lancashire zeigen. In der Küche dudelt das Radio, und der Bratenduft erfüllt das ganze Haus.
Nelson drückt das Gesicht an Michelles Hals, um seine Schuldgefühle zu verbergen.
Nach dem Mittagessen döst Nelson beim Fußball vor dem Fernseher. Michelle und Rebecca sind in Michelles Fitnessclub schwimmen gegangen. Nelson weiß, dass er oben sicher besser schlafen würde, aber für ihn kommt es überhaupt nicht in Frage, sich als kerngesunder Mann mitten am Nachmittag ins Bett zu legen. Außerdem spielt ManU. Und so treibt er irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein dahin: Michelle, Ruth, ein Boot im dunklen Hafen, Schnee, der den Strand bedeckt, Schüsse in der Nacht, Claras Miene, als er ihr das Tagebuch gezeigt hat, eine gebeugte Gestalt auf dem Treppenabsatz.
Mit einem Mal fährt er kerzengerade in die Höhe.
Was hat Irene, die unten schläft, weil es «bequemer» für sie ist, um Mitternacht auf der Turmtreppe verloren?
Clara hat gesagt, die Schere gehöre ihrer Großmutter.
Nelson geht ins Arbeitszimmer, wo die Kisten mit der Gemeindezeitschrift stehen und eine weitere Kiste mit der Aufschrift «Sea’s End». Darin sind die Unterlagen von Hugh Anselm, der 16-Millimeter-Film und ein paar Fotos, die Stella Hastings ihm mitgegeben hat. Nelson zieht ein Foto heraus und steckt es in die Brieftasche. Dann schreibt er Michelle einen Zettel und geht aus dem Haus.
Erst öffnet niemand, als er bei Marias Einzimmerwohnung klingelt, doch als er gerade wieder gehen will, fragt eine leicht verängstigte Stimme: «Wer ist da?»
«DCI Nelson. Hallo, Maria. Kann ich einen Augenblick reinkommen?»
Es surrt in der Gegensprechanlage, und Nelson springt mit großen Schritten die Treppe hinauf.
Auch diesmal ist das Zimmer akribisch aufgeräumt. Hier duftet es nicht nach Sonntagsbraten, und kein Fernseher lärmt im Hintergrund. Maria und ihr kleiner Sohn sind offensichtlich mitten in einem Brettspiel. George sitzt auf dem Boden und würfelt mit größter Konzentration.
«Schlangen und Leitern», erklärt Maria.
«Toll», sagt Nelson. «Das war auch immer mein Lieblingsspiel, trotz der großen Schlange am Ende.»
«Möchten Sie ein Tee?» Maria sieht immer noch ängstlich drein.
«Nein danke, Kindchen. Ich wollte Ihnen einfach nur ein Foto zeigen, wenn ich darf.»
«Ein Foto?»
«Ja.» Nelson zieht das Foto aus der Brieftasche.
«Sie haben doch erzählt, Archie hätte manchmal Besuch von einer alten Dame bekommen. Ist sie das zufällig?»
Maria betrachtet das Foto. Es zeigt Irene auf der Terrasse von Sea’s End House. Stella sagte, das Foto sei etwa ein Jahr alt.
«Ja», sagt Maria zögernd. «Das ist die Dame. Mrs. Hastings.»
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27
Wenn George eingeschlafen ist, schaut Maria gerne noch ein Weilchen aus dem Fenster. Der Blick ist natürlich nicht besonders schön: der Vorplatz einer Tankstelle, die Häuser auf der anderen Straßenseite, in denen früher einmal einzelne Familien gewohnt haben könnten, die jetzt aber fast alle in Einzimmerapartments wie ihres aufgeteilt sind, eine riesige Anzeigetafel mit Werbung für ein Auto, das sich leuchtend rot vor dem leuchtend blauen Hintergrund abhebt. Trotzdem sitzt sie gern im dunklen Zimmer – das Deckenlicht will sie wegen George nicht mehr anmachen – und sieht der Welt da draußen zu: den Autos, die an der Tankstelle halten, den Vertretern im Anzug, die ungeduldig mit dem Fuß wippen, während sie darauf warten, dass der Tank endlich voll ist, den gestressten Familien, den jungen tätowierten Männern und ihren mit jeder Menge Extras aufgemotzten Wagen, den Leuten, die unter den Straßenlaternen dahineilen, den Lichtern, die nacheinander in den kleinen Wohnungen angehen. Maria ist viele hundert Kilometer von ihrer Familie entfernt, doch irgendwie sind diese gesichtslosen Fremden eine Art Familie für sie geworden. Und wenn sie so im Dunkeln sitzt und Georges schnaufenden Atemzügen lauscht – sie muss unbedingt noch mal zum Arzt mit ihm wegen seiner Nebenhöhlen –, empfindet sie eine eigenartige Zuneigung, fast schon Liebe für die Menschen da draußen. Sie haben alle ihr eigenes Leben,
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