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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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fast dunkel. Zweimal rutscht Ruth beinahe aus. Sie spürt, wie ihr das Wasser von oben in die Gummistiefel läuft – ein unangenehmes Gefühl. Hätte sie bloß eine wasserdichte Hose angezogen! Sie versucht, nicht weiter daran zu denken, warum sie es nicht getan hat: weil sie darin nämlich aussieht wie das Michelin-Männchen, und sie wusste ja, dass sie Nelson treffen würde.
    Um drei hat sie Shona angerufen, die für heute mit dem Unterrichten fertig war und vorbeigekommen ist, Kate abgeholt und sie mit zu sich nach King’s Lynn genommen hat. Ruth vertraut Shona – zumindest bis zu einem gewissen Grad –, aber sie weiß auch, dass ihre stilbewusste Freundin keine weitere Erfahrung mit Kinderbetreuung hat als die Wochenendbesuche der Kinder ihres verheirateten Geliebten. Hoffentlich ist sie mit Kate nicht zu McDonald’s gegangen.
    Sie streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Trace vor ihr hat den Pfad bereits erreicht. Ohne sich noch einmal nach Ruth umzudrehen, läuft sie in Richtung Sea’s End House hinauf und tastet in der Hosentasche bereits nach ihrem iPhone. Ruth klettert langsam aus dem eiskalten Wasser; ihre Hosenbeine sind bis hinauf zu den Oberschenkeln klatschnass. Sie schaut sich noch einmal um. Auf dem Parkplatz am anderen Ende der Bucht kann sie gerade noch Ted und Craig ausmachen, die die Kisten in den Transporter verladen. Clough ist auch dort. Sie sieht seine reflektierende Warnweste. Nelson hat sich nicht wieder blicken lassen. Unten am Strand ist das Wasser jetzt in der Bucht angekommen, und die Wellen schwappen fröhlich in den schmalen Spalt zwischen den Felswänden. Das Grab der sechs Männer ist zerstört. Die ganze Bucht ist überflutet, und die größeren Wellen schlagen an den Fels, dass es klingt, als würde Glas zerbrechen.
    Langsam erklimmt Ruth den Hang. Sie kann es kaum erwarten, zu Kate zurückzukommen, doch erst muss sie sich überzeugen, dass auch alle Funde beisammen sind. Auf dem Parkplatz steht ihr Renault gleich neben dem unmarkierten weißen Polizeitransporter. Ted und Craig schließen gerade die Hecktüren, Clough sieht ihnen dabei zu. Ein Stück weiter steht Trace über ihr iPhone gebeugt. Clough fängt Ruths Blick auf. «Sie liebt das Ding mehr als mich.»
    Normalerweise hat Ruth nicht allzu viel übrig für Clough, den sie für einen sexistischen und rassistischen Polizei-Neandertaler von der schlimmsten Sorte hält, doch irgendetwas in seiner Miene rührt sie. Außerdem ist sie erstaunt, ihn von «Liebe» sprechen zu hören, selbst wenn es nur im Scherz ist. Sollte der sprichwörtlich bindungsscheue Clough sich tatsächlich ernsthaft verliebt haben?
    Und so lächelt Ruth. «Bestimmt nicht.»
    Clough zuckt die Achseln und sieht nicht sehr überzeugt drein. «Die Kisten mit den Knochen sind alle im Wagen. Die Autopsie ist für morgen früh um neun angesetzt.»
    «Weiß Nelson Bescheid?»
    «Ich soll Ihnen sagen, dass er Sie dort trifft.»
    «Danke.» Ruth wechselt noch ein paar Worte mit Ted, dann geht sie zu ihrem Wagen. Clough ruft ihr hinterher: «Passen Sie gut auf Ihre Kleine auf. Die ist echt eine Wucht!»
    Es geschehen noch Zeichen und Wunder, denkt Ruth, als sie in die Dunkelheit hinausfährt. Kate hat es ohne weiteres geschafft, ihre Mutter in ein Nervenbündel zu verwandeln und Clough in ein menschliches Wesen. Was sie wohl in den nächsten vier Monaten ihres Lebens noch alles anstellen wird?

    Ruth ist noch nicht ganz an Shonas Haus, da hört sie bereits das Geschrei. Ach was, Geschrei: Das ist Brüllen, Kreischen, das wilde Heulen einer Furie. Das hübsche kleine Reihenhaus scheint von dem Lärm in seinen Grundfesten zu erbeben. Ruth rennt den Gartenweg entlang, doch Shona öffnet schon, ehe sie an der Tür ist. Auf ihrem Arm zappelt ein kleines Monster mit knallrotem Gesicht.
    «Es tut mir so leid, Ruth. Ich habe wirklich alles versucht. Schlaflieder, klassische Musik, Hoppe hoppe Reiter, das ganze Programm. Das geht jetzt schon fast eine Stunde so. Sie muss irgendwie krank sein, glaube ich.»
    Ruth nimmt Kate in die Arme, worauf diese einmal tief Luft holt, sich an den Hals ihrer Mutter schmiegt und auf der Stelle einschläft. Die Stille, die darauf folgt, ist geradezu übermächtig, viel mehr als die bloße Abwesenheit von Lärm.
    «Mein Gott!» Shona klingt ebenso entgeistert wie fasziniert. «Sie wollte einfach nur zu ihrer Mutter.»
    «Wahrscheinlich hat sie sich nur müde gebrüllt», meint Ruth betont unwirsch, um ihre eigenen Gefühle zu

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