Gezeitengrab (German Edition)
verbergen. So etwas ist noch nie vorgekommen. Insgeheim war Ruth immer überzeugt, dass sie auch nicht besser mit Kate umgehen kann als andere. Die wahre Expertin schien ihre eigene Mutter zu sein, mit ihrer gutgepolsterten, matronenhaften Autorität, oder auch Sandra, die Tagesmutter. Ruth mochte zwar glauben, Kate zu kennen, aber sie war sich nie sicher, ob das auf Gegenseitigkeit beruht. Bis jetzt.
Sie folgt Shona ins Wohnzimmer und hält Kate dabei auf eine Weise, die ihr plötzlich wie eingeübte Selbstverständlichkeit vorkommt. Das sonst so elegante Zimmer weist Spuren von Shonas Bemühungen auf, das Baby zu beruhigen. Auf dem glänzenden Holzboden rollt eine halbvolle Milchflasche umher, auf dem Sofa liegen diverse CDs mit besänftigender klassischer Musik verstreut. Im Fernsehen läuft ein quietschbuntes Kinderprogramm, und auf dem Couchtisch steht eine offene Flasche Wein.
Shona folgt Ruths Blick. «Ich hatte nicht mal Zeit, mir ein Glas einzuschenken.»
Ruth sagt nichts zu dem Umstand, dass Shona beim Beaufsichtigen von Ruths Kind Alkohol trinken wollte. Sie ist ja selbst schuld daran, dass sie keinen funktionsfähigen Notfallplan hat und Shona sich deshalb den ganzen Nachmittag mit einem brüllenden Baby herumschlagen musste, und Ruth ist ihr dankbar dafür – auch wenn es sie ein wenig verstört, wie hastig Shona jetzt nach dem Weinglas greift und es bis zum Rand füllt.
«Willst du auch was?», fragt sie mit leichter Verzögerung.
«Nein danke. Ich muss ja noch fahren.»
«Ich kann dir auch einen Tee machen», sagt Shona, ohne sich zu rühren.
«Schon gut», erwidert Ruth. «Ich sollte besser los.» Sie macht sich daran, Kate wieder in ihren Kindersitz zu verfrachten, ein unnötig kompliziertes Gerät, das sie von Cathbad bekommen hat.
«Wie war denn die Ausgrabung? Es war ja einiges los, als ich vorbeigekommen bin. Habt ihr was gefunden?»
Ruth schaut über die Schulter zu Shona, die sich inzwischen im Schneidersitz in einem Sessel niedergelassen hat; das rote Haar fällt ihr halb über die Augen. Es gab eine Zeit, da hatte Ruth Anlass, Shonas Interesse an ihrer Arbeit zu misstrauen, aber jetzt hat sie das Gefühl, dass sie – oder besser gesagt Kate – ihr etwas schuldig ist. Ein paar Informationen sind da das Mindeste.
«Sechs Skelette», sagt sie. «Die mir relativ aktuell zu sein scheinen.»
«Lieber Himmel, Ruth!» Shona klingt schon fast belustigt. «Steckst du etwa wieder in einem Mordfall drin?»
«Im letzten habe ich ja nun nicht direkt dringesteckt», erwidert Ruth spitz. «Es sei denn, du zählst dazu, dass ein Wahnsinniger versucht hat, mich umzubringen.»
«Das zähle ich allerdings dazu.»
«Tja, diesmal soll ich einfach nur die Knochen untersuchen. Mir anschauen, wie sie bestattet wurden, und das alles.»
«So, so.» Shona wirkt nicht sehr überzeugt. «Ich habe den irischen Spinner dort gesehen. Und diese Zicke mit den feuerroten Haaren. War sonst noch wer von der Uni da?»
Während sie den letzten Gurt befestigt, mustert Ruth sie neugierig. Shona arbeitet ebenfalls an der Universität, sie unterrichtet englische Literaturwissenschaft, aber seit einem Jahr hat sie eine Affäre mit Ruths Chef, Phil. Kurz vor Weihnachten hat Phil zur allgemeinen Überraschung seine Frau für Shona verlassen. Ruth ist sich nicht ganz sicher, ob Shona nicht selbst über diese Entwicklung fast am meisten entsetzt war. Zumindest hat sie bisher keine weiteren Schritte unternommen, Phil bei sich einziehen zu lassen. Er hat sich eine Wohnung in der Nähe gemietet, angeblich, um den Kindern Zeit zu geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Eigentlich sollte Shona also bestens über die Vorgänge am Fachbereich Archäologie informiert sein. Ruth fragt sich, was sie wohl gegen Trace hat.
«Steve und Craig, zwei von den Feldarchäologen», antwortet sie. «Ich dachte eigentlich, Phil würde auch vorbeikommen.»
«Ach, der hatte eine Sitzung mit irgendwelchen Sponsoren», sagt Shona zerstreut.
«Wie geht’s euch denn?», fragt Ruth, obwohl sie gar nicht sicher ist, ob sie das wirklich wissen möchte. Sie kommt ganz gut mit Phil zurecht, er ist als Chef einigermaßen erträglich, aber darauf beschränkt es sich auch schon. Er stilisiert sich zu sehr zum modernen Archäologen, ist ganz wild auf technische Neuerungen und Fernsehauftritte. Ruth hatte immer schon den Eindruck, dass er sie eigentlich als rückschrittlich betrachtet, zwar Expertin auf ihrem Gebiet, aber doch ein
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