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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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detailversessenes Arbeitstier, das sich nicht dafür eignet, im Rampenlicht zu stehen. Ihr selbst passt das ganz gut. Ihre berufliche Beziehung läuft also bestens. Aber eigentlich hat sie wenig Lust, Phil in seiner neuen Rolle als Lebensgefährte ihrer besten Freundin zu erleben.
    «Ach, ganz gut.» Shona dreht eine Haarsträhne um den Finger. «Seine Frau führt sich halt schrecklich auf.»
    «Das ist ja nun auch schwierig für sie», gibt Ruth zu bedenken. «Wie lange waren die beiden verheiratet?»
    «Fünfzehn Jahre. Aber es funktioniert schon seit fünf Jahren nicht mehr.»
    Ruth fragt sich schon seit langem, wie Shona, die schließlich eine brillante Literaturwissenschaftlerin ist, in Bezug auf Männer so leichtgläubig sein kann. Wer sagt denn, dass die Ehe schon seit fünf Jahren nicht mehr funktioniert hat? Phil vermutlich. Ruth hat seine Frau Sue bei verschiedenen Institutseinladungen gesehen, und die beiden wirkten immer wie ein Paar, das sich gut versteht. Sie haben zwei Kinder, zwei Jungs, die jetzt wohl im Teenageralter sein dürften.
    «Vierzehn und zwölf», antwortet Shona auf die Frage. «Ich komme richtig gut mit ihnen aus.»
    Das glaubt Ruth sofort. Sie kann sich vorstellen, wie Shona die beiden Jungen mit ihrer Schönheit und ihrem Temperament bezaubert. Ob die beiderseitige Begeisterung anhält, bleibt allerdings abzuwarten.
    Ruth sammelt Kates Milchflasche, ihre Decke und etliche Stofftiere ein, die im Zimmer verstreut liegen. Shona macht keine Anstalten, ihr zu helfen, sondern bleibt zusammengerollt im Sessel sitzen und trinkt ihren Wein. Offensichtlich findet sie, dass ihr Teil der Arbeit bereits erledigt ist, und im Grunde ist Ruth derselben Ansicht.
    Nachdem sie das letzte Stofftier in die Wickeltasche gestopft hat, sagt sie: «Vielen Dank, Shona. Tut mir leid, dass es so schlimm für dich war.»
    «Schon gut», sagt Shona, streitet aber nicht ab, dass es tatsächlich schlimm war. «Jederzeit gerne.»
    «Ich hoffe und bete, dass es Sandra morgen wieder bessergeht», sagt Ruth.

    Auf der Fahrt zurück zum Salzmoor denkt sie über ihre Freundschaft zu Shona nach. Sie kennen sich, seit Ruth an der UNN angefangen hat, aber richtig nähergekommen sind sie sich erst bei der Ausgrabung des Henge. Wenn Ruth sich an diese Zeit erinnert – an die Gespenstergeschichten, die Erik am Lagerfeuer erzählte, den Geruch von verbranntem Torf am Morgen, den Wind, der des Nachts durch das Schilf rauschte, und den unvergesslichen ersten Anblick des Henge, der sich schwarz vor dem blaugrauen Sand abhob –, dann denkt sie auch an Shona, die wie ein Meereskobold durch die Dünen rannte, das lange rote Haar flatternd im Wind, und rief: «Da ist er! Da ist der Henge!» Shona war die erste echte Freundin, die Ruth in Norfolk hatte, und Ruth schätzt ihre Freunde über alle Maßen. Seit ihre Eltern, als Ruth ein junges Mädchen war, in den Schoß der Kirche zurückgekehrt sind und ihre Beziehung zu Gott allem Anschein nach für wichtiger erachten als die Beziehung zu ihrer Tochter, hat Ruth bei ihren Freunden Halt gesucht. Sie war nie der Cliquen-Typ und wundert sich über ihre Studenten, die ganze Hundertschaften von Freunden auf Facebook oder MySpace haben. Ob das wirklich alles echte Freunde sind, die sich um die Katze kümmern oder einen vom Krankenhaus abholen? Oder doch nur eine gesichtslose Masse, die ab und zu lustige Nachrichten – lol! – auf der Pinnwand hinterlässt und ansonsten im täglichen Leben keine Rolle spielt? Wie soll man denn dreihundert enge Freunde haben?
    Ruth war immer schon mit zweien oder dreien zufrieden. Alison und Fatima in der Schule, Caz, Roly und Val auf der Uni, Josephine Dumbili in einem lange zurückliegenden Sommerurlaub auf Kreta. Und jetzt Shona. Im Lauf der Jahre haben Fatima, Caz und Val sich Ehemänner und Kinder zugelegt – Roly ist lesbisch, und Alison lebt als überzeugter Single in New York – und sich unweigerlich immer weiter von Ruth entfernt, sodass sie sich mehr und mehr auf Shona verlassen hat. Sie erschien ihr manchmal wie die letzte Bastion in einer Welt voller Mamas, Familienurlaube und selbstgefälliger Weihnachtsrückblicke – «Dieses Jahr ist auch Ellie zu Sophie und Laura an die Grundschule gekommen». Als sie erfuhr, dass Shona sie jahrelang belogen hat, genauer gesagt, schon seit der Henge-Grabung, fühlte Ruth sich verletzt und hintergangen. Aber sie brauchte Shona doch zu sehr, und so haben sie ihre Freundschaft wieder gekittet, die nun nicht

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