Gezeitengrab (German Edition)
kleinen Kreuz am Ende.
«Vielleicht gibt uns das ja einen Anhaltspunkt», sagt Trace.
«Nee», meint Ted. «Die Dinger gibt es überall zu kaufen.»
Ruth steckt den Rosenkranz in einen eigenen Beutel.
«Ein Beweisstück ist es allemal», sagt sie.
Jetzt können sie die Skelette erkennen, die unter den anderen liegen und offenbar auf einer Art weißem Laken ruhen. Auf dem Laken befinden sich kleine Faserknäuel. Ted beugt sich darüber.
«Sieht aus wie das Zeug, das wir neulich schon gefunden haben. Und riecht auch so.»
«Das Material lässt sich bestimmt identifizieren», sagt Ruth. «Vielleicht kann es bei der Datierung helfen.» Sie richtet sich auf, streckt den Rücken. Die anfängliche Euphorie weicht einer plötzlichen, bleiernen Müdigkeit. Sie ist aus der Übung. Nacken und Schultern fühlen sich an, als trüge sie einen eisernen Kragen. Und der Graben und die Felswand, die über ihr aufragt und nur ein winziges Dreieck Himmel oben sehen lässt, verursachen ihr plötzlich Beklemmungen.
Ted mustert sie. «Lass doch Trace mal ein Weilchen übernehmen.» Er beugt sich vertraulich vor. «Ist eine gute Übung für sie.»
Ruth lächelt ihn dankbar an, weil er so taktvoll ist. Er grinst zurück und lässt dabei zwei Goldzähne aufblitzen. Ruth klettert aus dem Graben, sehr darauf bedacht, die Wände nicht zu beschädigen, und Trace nimmt ihren Platz ein.
Langsam geht Ruth über den Strand zurück. Ihr fällt auf, dass die Wellen am Horizont bereits weiße Schaumkronen tragen. Sie müssen unbedingt die Flut im Auge behalten. Sie steigt den Hang hinauf und folgt dem Pfad bis zum Parkplatz. Nelsons dreckiger Mercedes steht direkt neben einem Schild mit der bedrohlichen Aufschrift: «Vorsicht! Gefahr von Erdrutschen!» Das Fenster ist halb heruntergekurbelt, und dahinter sieht Ruth Nelson, den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen; Kate liegt an seiner Schulter. Einen Moment lang bleibt Ruth einfach nur stehen. Bisher hat sie Nelson nur ein Mal schlafen gesehen, und sie erinnert sich, wie sehr das sein Gesicht verändert hat: die harten Züge plötzlich so weich, die Wimpern erstaunlich lang, der Mund entspannt und verletzlich. Kate hat den Kopf an seinen Hals geschmiegt. Reflexhaft streckt Ruth die Hand nach ihr aus, um zu überprüfen, ob sie noch atmet. Das Baby dreht den Kopf weg, ohne aufzuwachen. Doch Nelson schlägt gleich die Augen auf.
«Ruth! Meine Güte! Hast du mich erschreckt.»
«Tut mir leid», sagt Ruth.
Nelson kurbelt das Fenster ganz herunter. «Ich habe nicht geschlafen», verteidigt er sich automatisch.
«Schon in Ordnung», sagt Ruth. «Ich verrate dich nicht bei Clough.»
«Wie kommt ihr voran?»
«Ganz gut. Vier Leichen haben wir schon geborgen.»
«Glaubst du, ihr werdet heute noch fertig?»
«Das hoffe ich.» Sie schaut zum winterlich blassblauen Himmel hinauf, an dem jetzt hoch und halbverdeckt die Sonne steht. «Es ist ja erst Mittag. Die Flut dürfte um sechs ihren Höhepunkt erreichen, bis dahin müssen wir auf jeden Fall fertig sein, weil dann der Graben überschwemmt wird. Wir haben ja das ganze Geröll vom Felssturz schon weggeräumt. Jetzt hält nichts mehr das Meer zurück.»
«Was hast du denn mit Katie vor? Sie kann ja schlecht den ganzen Tag hierbleiben, und ich muss demnächst wieder los.»
«Sie kann ja noch ein bisschen in ihrem Kindersitz schlafen.»
«Und wenn sie aufwacht?»
«Ich bleibe natürlich bei ihr.»
Nelson sieht sie schweigend an. Kate regt sich ein wenig, und er rückt sie auf seinem Arm zurecht. Seine Hand wirkt riesig auf ihrem schmalen Rücken. Ruth starrt wie gebannt auf seinen Ehering. Hat er den eigentlich immer schon getragen?
«Soll ich sie wieder nehmen?», fragt sie.
«Ist vielleicht besser.»
Ruth öffnet die Autotür, und Nelson steigt aus. Er legt Ruth das schlafende Baby in den Arm und zieht sorgfältig die Decke zurecht. Ruth betrachtet Kate, um Nelson nicht ansehen zu müssen.
«Sie ist wunderschön», sagt Nelson sanft.
«Lass das.»
«Ich kann nicht anders, Ruth. Ich habe sie bis heute doch kaum gesehen.»
An wem das wohl liegt? Doch Ruth weiß, dass solche Gedanken ein wenig ungerecht sind. Nelson hat sie schon mehrmals gefragt, ob er Kate besuchen kann, aber bisher hat sie immer eine Ausrede gefunden. Kate ist müde, sie ist erkältet, ich bin müde, ich muss arbeiten. Natürlich hat Nelson ein Recht, die Kleine zu sehen, aber Ruth ist auch nur begrenzt belastbar.
Jetzt hält sie den Blick gesenkt, zupft an Kates
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