Gezeitengrab (German Edition)
mehr ganz so eng ist wie früher, aber trotzdem noch recht robust. Ruth kann nur hoffen, dass sie auch Kate überstehen wird, die anscheinend über mehr Kraft verfügt als zehn Wirbelstürme, und dieses zweiköpfige Ungeheuer namens Shona-und-Phil.
Sie ist fast schon zu Hause. Die New Street liegt leicht erhöht über dem flachen Marschland, und wenn es dunkel ist, kann es einem manchmal so vorkommen, als würde man durchs Nichts fahren, einsam, verwundbar, den Stürmen ausgesetzt, die vom Meer heranbrausen, «direkt aus Sibirien», wie sich die Dorfbewohner voller Stolz brüsten. Ruth schaltet das Radio ein, und gleich darauf füllt die klangvolle Stimme Mark Lawsons den Wagen und erzählt ihr von einem experimentellen Theaterstück, von dem sie noch nie gehört hat und das sie auch ganz sicher nicht anschauen wird. Dem Himmel sei Dank für Kultursendungen! Ruth betet, dass Kate nicht aufwacht und vielleicht – traumhafter Gedanke! – sogar die ganze Nacht durchschläft. Eigentlich muss sie doch erschöpft sein nach dem ganzen Gebrüll.
Daheim angekommen, trägt Ruth den Kindersitz ins Haus und bemüht sich dabei, die Tür so leise wie möglich zu öffnen und zu schließen. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Kate zwar so ziemlich jede Radiosendung über experimentelles Theater verschläft, dafür aber von jedem noch so kleinen, unerwarteten Geräusch aufwacht. Einmal hat sie eine halbe Stunde lang gebrüllt, nachdem Ruth geniest hat. Ruth befreit die Kleine aus dem Kindersitz und trägt sie vorsichtig die steile Treppe hinauf. «In dem Haus kannst du mit einem Baby unmöglich bleiben», hat ihre Mutter sie gewarnt. «Diese Treppe ist ja gemeingefährlich.» Doch Ruth schafft es auch diesmal wieder, die Gefahr erfolgreich zu meistern, und legt die immer noch fest schlafende Kate in ihr Bettchen. Es gibt noch ein weiteres Zimmer, doch das ist winzig und mit allem möglichen Zeug vollgeräumt, was dazu führt, dass Ruth und Kate sich einstweilen ein Zimmer teilen – ein Zustand, an dem sich voraussichtlich nichts ändern wird, bis Kate etwa achtzehn ist.
Als Ruth gerade das Babyphon eingeschaltet hat, klingelt das Telefon. Sie rennt nach unten, um dem Höllenlärm ein Ende zu setzen. Mit gespitzten Ohren lauscht sie, ob Kate womöglich aufgewacht ist, doch im Schlafzimmer bleibt alles ruhig.
«Hallo?», flüstert Ruth in den Hörer.
«Hallo, Ruth. Ich bin’s. Tatjana.»
Diejenige unter all ihren Freundinnen, mit der Ruth am allerwenigsten gerechnet hätte.
Bosnien, im Juli 1996. Der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ruth war zusammen mit einem Team von der Universität Southampton, unter Eriks Leitung, nach Srebrenica geflogen. Sie waren in einem ehemaligen Vier-Sterne-Hotel untergebracht, das allerdings schwer bombardiert worden war und seine oberen drei Stockwerke eingebüßt hatte. Die verbliebenen Zimmer waren eine albtraumhafte Mischung aus einstigem Luxus und aktueller Not. Im Ballsaal standen Feldbetten in Viererreihen, darüber pendelte ein wie durch ein Wunder völlig unversehrter Kronleuchter wie wild im Wind, der durch die kaputten Fenster und die herausgerissenen Bodendielen hereinwehte. Der rote Teppich auf den Treppen war zerrissen und hier und da auch angesengt und blutverschmiert. Die Flügeltüren der Hotelhalle waren durch Wellblech ersetzt, in fast allen Räumen fehlte mindestens eine Fensterscheibe, und im Speisesaal hatte das Rote Kreuz sein Behelfsquartier aufgeschlagen; halbverhungerte Frauen und schwerst traumatisierte Kinder warteten dort auf zierlichen Goldstühlchen und musterten ihre eigenen verängstigten Mienen in den wandhohen Spiegeln.
«Das ist ja wie in Shining hier», meinte einer von Ruths Kollegen, kaum dass er die halbzerstörten Flure des Excelsior betreten hatte, und das wurde zum Running Gag. «Hier ist Jacky!», riefen die Archäologen einander zu, wenn sie spätabends in den Ballsaal zurückkehrten und im Schein der Petroleumlampen – Strom und heißes Wasser gab es nicht – grotesk verzerrte Schatten an die Wände warfen. Einer der Ärzte, Hank aus Louisiana, konnte Jack Nicholson so lebensecht nachmachen, dass die bosnische Dolmetscherin jedes Mal aufschrie, wenn sie ihn nur sah.
Wenn Ruth daran zurückdenkt, kann sie sich kaum an das Gefühl von Angst erinnern, obwohl sie oft genug Angst hatte. Stattdessen erinnert sie sich an fast teenagerhafte Empfindungen: Sie fühlte sich ausgeschlossen – die anderen Freiwilligen waren alle älter
Weitere Kostenlose Bücher