Gezeitengrab (German Edition)
Decke herum. «Kann ich sie wiedersehen?», fragt Nelson. Seine Stimme klingt, als käme sie aus weiter Ferne.
«Natürlich», sagt Ruth. «Cathbad will unbedingt eine Namensweihe für sie abhalten. Da könnt ihr beide kommen, du und Michelle.»
Sie hebt den Kopf und sieht Nelson in die Augen. Dunkle Augen, eher schwarz als braun, die er Kate vererbt hat.
«Danke», sagt Nelson. Dann dreht er sich um und stapft über den Pfad in Richtung Ausgrabungsstelle davon.
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5
Als es dunkel wird, sind alle sechs Skelette ausgegraben. Verpackt in Kisten mit der Aufschrift «Pathologie», warten die sorgfältig registrierten Knochen darauf, von Ted und Craig mit einer Seilwinde an der Felswand nach oben transportiert zu werden. Die Flut hat die Bucht schon fast erreicht. Trace, die ein Stück weiter den Strand entlanggegangen ist, steht bis zu den Knöcheln im Wasser. Die ersten vorwitzigen kleinen Wellen lecken bereits an den Rändern des Grabens. Das Meer ist noch blau im Schein der untergehenden Sonne, doch Sea’s End House oben auf seinem Felsen liegt schon im Dunkeln. Ruth steht im Graben, um ihn ein letztes Mal zu begutachten, bevor er dem Meer zum Opfer fällt. Es ist ein zentraler Bestandteil der forensisch-archäologischen Arbeit, das Umfeld zu analysieren, in dem eine Leiche bestattet wurde: die Erde, mit der das Grab aufgefüllt wurde, sowie sämtliche Gegenstände – Glas, Fasern, Tierknochen, Münzen, Tonscherben –, die sich in dieser Erde finden. Unter normalen Umständen würde Ruth Tage im Graben verbringen, Bodenproben nehmen, detaillierte Karten und Zeichnungen anfertigen, doch diesmal weiß sie, dass in fünf Minuten Salzwasser das gesamte Areal überfluten und alle noch vorhandenen Hinweise für immer beseitigen wird. Sie denkt zurück an die Ausgrabung vor zehn Jahren, als Erik am Strand des Salzmoors einen hölzernen Henge aus der Bronzezeit gefunden hat. Tagtäglich hatte Erik jemanden zur «Flutwache» abkommandiert. Trotzdem wäre Ruths Exfreund Peter einmal fast ums Leben gekommen, als das Meer plötzlich beängstigend schnell das Marschland überflutete und ihn von den anderen trennte. Erik hatte ihm damals das Leben gerettet. Immerhin eine gute Tat als Ausgleich zu anderen, finstereren Aktionen. Ruth kann nur hoffen, dass das berücksichtigt wurde, als Erik vor seinen Schöpfer trat. Nicht, dass sie an so etwas glauben würde, versteht sich.
«Beeil dich, Ruth!» Trace schaut zum Pfad hinüber, wo das Wasser bereits schäumt und brodelt. «Wir müssen noch über den Strand waten, bevor es zu tief wird.»
«Okay!» Ruth macht ein letztes Foto. «Ein Grab ist wie ein Fußabdruck der Zerstörung» – das sagt sie ihren Studenten immer. Die natürlichen Erdschichten geraten durcheinander, Erdreich und Steine werden miteinander vermengt, Pflanzen wachsen anders weiter als zuvor. Jemand hat diese Grube mit voller Absicht ausgehoben, und ihrer Lage nach zu urteilen hat dieser Jemand darauf gehofft, dass sie nie gefunden wird. Hätte Ruth mehr Zeit, könnte sie genau bestimmen, welches Werkzeug zum Graben verwendet wurde, aber so kann sie nur registrieren, wie die Erdschichten durchstoßen wurden. Man nennt das den Grabstich. Sie nimmt Bodenproben und packt auch ein paar Holz- und Glasreste ein, die von Sand und Wasser ganz glatt geschmirgelt sind. Den vielleicht wichtigsten Fund hat sie bereits sichergestellt: eine einzelne Patrone. Dann wuchtet sie sich ungelenk aus dem Graben.
Die letzte Kiste wird gerade nach oben befördert und schwankt heftig im Wind, während die beiden Männer am Seil ziehen. Mit zusammengekniffenen Augen sieht Ruth dem dunklen Umriss hinterher; sie spürt einen gewissen Widerwillen zu gehen, bevor nicht auch das letzte Skelett seine Ruhestätte verlassen hat. «Los, komm!», ruft Trace. Von der Kiesbank ist nur noch ein schmaler Streifen übrig, und hier und da schlagen die Wellen bereits an den Felsen. Trace und Ruth eilen das letzte verbliebene Stück Küste entlang, dicht an der Felswand, und versuchen, den Wellen auszuweichen. Auf Höhe von Sea’s End House müssen sie bis zu der steinernen Anlegestelle durchs Wasser waten. Trace geht voraus und hinterlässt eine sichtbare Spur im schäumenden Wasser. «Mist», ruft sie über das Lärmen der Wellen hinweg, «das ist viel tiefer, als es aussieht!»
Ein paar angespannte Minuten lang kämpfen sie sich durch die erstaunlich starke Unterströmung. Der Wind klingt laut und wütend, es ist schon
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