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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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benutzt dabei einen Messstab zur Größenbestimmung. Dann zeichnet sie die Position der Skelette in den Plan ein. Und schließlich fängt sie an, den ersten Toten Knochen für Knochen auszugraben. Jeden Knochen, den Ruth freilegt, verzeichnet Trace auf dem Skelett-Spickzettel und schreibt dann mit wasserfestem Stift eine kleine Nummer darauf. Das Skelett ist vollständig, und wie Ruth schon vermutet hat, sind noch Zähne dabei. Auch die werden einzeln verzeichnet und nummeriert. Als sie beim Schädel angekommen ist, stellt sie fest, dass Haare daran sind, aschblonde Haare, die fast dieselbe Farbe haben wie der Sand.
    An den Handgelenken finden sich die Fragmente eines Seils.
    Ted pfeift durch die Zähne. «Die wurden ja wirklich an den Händen gefesselt.»
    «Vielleicht lässt sich aus den Seilfasern ja noch DNA gewinnen», meint Ruth. «Es könnte Blut oder Schweiß daran sein.»
    «Kriegen wir auch DNA-Material aus den Knochen?», fragt Ted.
    «Möglich», sagt Ruth. «Es kann aber sein, dass es beim Bestatten beschädigt wurde.»
    Trace äußert sich nicht dazu. Sie arbeitet rasch, aber schweigend, und steckt jeden Knochen einzeln in eine Papiertüte.
    Ruth wirft einen Blick auf den Skelett-Spickzettel. Sie ist sich sicher, dass die Toten erwachsene Männer sind. Der Wulst über den Augen ist bei allen Schädeln klar erkennbar, ebenso wie der Nuchalkamm am Hinterkopf und das stärker ausgeprägte Schläfenbein. Vor allem das erste Skelett hat zudem einen auffallend eckigen Kiefer. Ruth überlegt, ob sie wohl eine Gesichtsrekonstruktion vornehmen lassen können, doch während sie den Schädel noch betrachtet, der da, von Sand umweht, vor ihr auf der Plane liegt, beschleicht sie das ungute Gefühl, genau zu wissen, wie der Mann dazu ausgesehen hätte. Groß – das sieht man an den langen Knochen – und blond, mit vorspringendem Kinn. Ein Wikinger, denkt sie, obwohl sie weiß, dass das aus historischer Sicht unwahrscheinlich ist. Wieder muss sie an ihren einstigen Mentor denken, Erik Anderssen. Erik der Wikinger.
    «Wie läuft’s bei Ihnen?» Ruth erkennt Cloughs Stimme, sieht aber nicht zu ihm hoch.
    «Ganz gut. Mit dem ersten Toten sind wir praktisch durch.»
    «Das Baby schläft», berichtet Clough mit amüsierter Stimme. «Und ich glaube, der Boss nickt auch bald ein.»
    Ruth sagt nichts dazu, doch Trace kann sich die leicht gehässige Bemerkung nicht verkneifen: «Ich wusste gar nicht, dass Nelson dermaßen auf Babys abfährt.»
    «Na ja, er hat ja selbst Kinder, nicht?», sagt Ted, der gerade den zweiten Schädel geborgen hat.
    «Die sind längst erwachsen», sagt Clough. «Und richtig heiße Feger.»
    Ruth fragt sich, ob Ted wohl Kinder hat. Eigentlich weiß sie nicht viel über ihn, nur, dass er in Bolton zur Schule gegangen ist und allgemein als ein Säufer vor dem Herrn gilt. Außerdem findet sie es irgendwie unpassend, dass Clough Nelsons Töchter, von denen die eine noch zur Schule geht, als «heiße Feger» bezeichnet. Was Trace wohl dazu sagt?
    Der zweite Tote ist etwas kleiner, und die Haarreste auf seinem Schädel sind dunkel. Als sie bei den Händen sind, stellen sie fest, dass ihm ein Zeigefinger fehlt.
    «Das kann doch mal ganz nützlich sein», meint Ted.
    Der Ansicht ist Ruth auch. Sie ist sich fast sicher, dass diese Männer in jüngerer Vergangenheit getötet wurden. Falls das stimmt, sind besondere Kennzeichen von unschätzbarem Wert.
    Der nächste Tote liegt genauso da wie die anderen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Allerdings hält er etwas in der rechten Hand, die knochigen Finger noch fest darum geschlossen.
    «Was ist das?» Ted beugt sich vor.
    Vorsichtig biegt Ruth die Finger auseinander. Sie geben den Gegenstand, den sie schon so lange umklammert halten, nur widerwillig frei. Gold blitzt auf, weiße Perlen.
    «Ist das ein Armband?», fragt Ted.
    «Nein, ein Rosenkranz», sagt Ruth.
    Es ist nicht der erste Rosenkranz, den sie sieht. Sofort steht ihr Pater Hennessey vor Augen, der katholische Priester, den sie im Rahmen der Ermittlungen um eine ebenfalls lange Zeit vergraben gewesene Leiche kennengelernt hat. Sie erinnert sich noch gut an das halbzerstörte Haus, den verlassenen Garten, den Torbogen, der sich vor dem Himmel abhob, und an Pater Hennessey und seinen Rosenkranz, den er durch die Finger gleiten ließ und dazu lautlos die Lippen bewegte. Sein Rosenkranz war schwarz und prunkvoll. Dieser hier ist kleiner, schlichter, weiße Perlen an einer Goldkette, mit einem

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