Gezeitengrab (German Edition)
kaum als vollwertige Frau. Sie gehört zu Nelsons Kollegen, so wie Clough und Judy, und stellt keinerlei sexuelle Bedrohung dar.
Michelle reicht Nelson eine Tasse Tee. «Gehen wir hin?»
«Wohin?»
«Zu der Namensweihe. Komm, lass uns hingehen. Vielleicht wird’s ja ganz lustig.»
«Ich weiß nicht.» Nelson nimmt seinen Tee und geht damit wieder ins Arbeitszimmer zurück. «Ich stecke gerade bis zum Hals in Arbeit.»
Obwohl er es mehrfach versucht, erreicht Nelson Whitcliffe erst am nächsten Morgen. Er erklärt seinem Chef, dass er noch einmal mit Archie reden müsse, es sei neues Beweismaterial aufgetaucht, das ihn zu einem wichtigen Zeugen mache, ob er nun mit dem Superintendent verwandt sei oder nicht. Doch seine Anfrage kommt zu spät. Whitcliffe setzt ihn steif darüber in Kenntnis, dass sein Großvater in der Nacht zuvor, kurz vor Mitternacht, gestorben sei.
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10
«War er krank?», mümmelt Clough etwas undeutlich durch seinen Schokokeks hindurch.
«Als Johnson und ich gestern bei ihm waren, wirkte er noch taufrisch.» Nelson reißt das Lenkrad zur Seite, um den Lastwagen eines Bauern zu überholen.
«Ich sag Ihnen, das liegt an Johnson», meint Clough. «Sie ist eine Hexe. Wissen Sie noch, letztes Jahr?»
Nelson weiß tatsächlich noch, dass Judy im Jahr zuvor eine todkranke alte Dame befragt hat, was erschreckende und tragische Folgen hatte.
«Aber vielleicht hatte er ja ein Herzleiden.» Clough leckt sich die Krümel von den Fingern. «Wie alt war er, sagten Sie?»
«Sechsundachtzig», antwortet Nelson.
«Na, da haben wir’s doch», sagt Clough. «Das Alter war’s. Rätsel gelöst.»
Ob es wohl wirklich so einfach ist, fragt sich Nelson, als er zum Greenfields Care Home abbiegt. Ein alter Mann stirbt. Kein großes Rätsel, einfach nur das absehbare Ende eines langen Lebens. Aber sechsundachtzig ist heutzutage doch kein Alter mehr. Maureen, Nelsons Mutter, ist mit ihren vierundsiebzig aktiver als manche Dreißigjährige. Jeden Tag liest man von Leuten, die hundert oder noch älter werden. Die Queen muss schon einen Schreibkrampf haben von den vielen Telegrammen. Und Archie Whitcliffe wirkte wie der Inbegriff des kerngesunden Senioren, wie er da so stolz in seiner adretten Jacke und seiner Regimentskrawatte vor ihnen stand. Kein Mensch im Heim hat etwas von einem Herzleiden erwähnt, und Archie zeigte auch keine verräterischen Anzeichen wie Gesichtsrötung oder Kurzatmigkeit. Er wirkte ruhig und beherrscht, fast einschüchternd. Falls das so wäre, würde ich es Ihnen bestimmt nicht sagen. Wir haben einen Blutschwur geleistet.
Und nur wenige Stunden, nachdem er diese Worte geäußert hatte, war er tot. Er sei im Schlaf gestorben, hieß es, an einem schweren Schlaganfall. Das kann in jedem Alter passieren, das ist auch Nelson klar, trotzdem macht ihm die Abfolge der Ereignisse Sorgen. Und deshalb ist er jetzt erneut unterwegs in das Seniorenheim, trotz der nur schwach getarnten Missbilligung seitens Whitcliffe. «Vielleicht wäre es aus Pietätsgründen besser, ein paar Tage zu warten.» Nun, Nelson wird die Pietät schon wahren, aber er weiß aus Erfahrung, wie wichtig Zeugenaussagen unmittelbar nach dem Ereignis sein können. Er will mit den Menschen reden, die Archie Whitcliffe als Letzte lebend gesehen haben.
Eigentlich hätte er lieber Judy dabeigehabt und nicht Clough, doch wie er entrüstet feststellen musste, hat Judy heute frei. «Das hat sie schon vor Ewigkeiten angemeldet», erklärte ihm Leah, seine Assistentin. «Ich glaube, sie hat eine Anprobe für ihr Hochzeitskleid.» Herrgott! Dieses Revier bekommt mit jedem Tag mehr Ähnlichkeit mit einer Folge von Friends – er kennt die Serie durch seine Töchter. Und da zwei Beamte nun mal Vorschrift und die Vorschriften in diesem Fall streng einzuhalten sind, musste er Clough mitnehmen und kann nur hoffen, dass der seine gern geäußerten Ansichten zur Sterbehilfe – «Jenseits der siebzig ist das doch eine Erlösung» – diesmal für sich behält.
Aber dann scheint die Umgebung Clough doch einzuschüchtern. Er wird erst wieder munterer, als sich die letzte Person, die Archie lebend gesehen hat, als bildhübsche philippinische Pflegekraft entpuppt.
Sie heißt Maria und hat rot geweinte Augen. Nelson weiß selbst nicht, wieso er über diesen Ausdruck menschlicher Regungen so erleichtert ist. Die Leiterin des Seniorenheims, eine respektgebietende Dame namens Dorothy, hat zwar alles gesagt, was in einer
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