Gezeitengrab (German Edition)
Marias Stirn glättet sich wieder, und sie lächelt beinahe. «Jetzt weiß ich wieder. Luzifer. Er hat Luzifer gesagt.»
«Luzifer», sagt Clough. «Meine Fresse!»
Sie stehen in Archie Whitcliffes Zimmer, das bereits unbewohnt wirkt. Das Bett ist abgezogen, das Kissen grabsteinglatt. Auf dem Nachttisch steht noch das Glas mit Archies Gebiss, daneben eine Ausgabe von Dorothy Sayers’ Krimi Der Glocken Schlag . Die Familienmitglieder lächeln nach wie vor von den Wänden herunter, doch jetzt wirkt selbst das fröhliche Grüppchen Kinder seltsam traurig. Es ist ja keiner mehr da, der ihre aufgesetzte gute Laune betrachten kann, bis auf Dorothy und ihre Mitarbeiter, wenn sie das Zimmer ausräumen und es für den nächsten «Bewohner» bereit machen. Nelson schaut aus dem Fenster. Der Garten ist makellos und menschenleer. Ein Gärtner mäht den Rasen, doch trotz des schönen Frühlingswetters sitzt niemand in den malerisch auf der Veranda platzierten Korbstühlen. Nelson dreht sich um und bemerkt dabei ganz hinten auf dem Schreibtisch ein vergilbtes Foto. Ein paar Männer mittleren Alters sitzen in einer Reihe vor einem Haus, das ihm irgendwie bekannt vorkommt. Vor ihnen hocken drei deutlich jüngere Männer auf dem Boden. Und am unteren Rand des Fotos steht in krakeliger Schrift: «Broughton Sea’s End, Home Guard, 1940.»
Welcher ist Archie? Der schlaksige Junge ganz vorn, der sich Mühe gibt, sein Lächeln zu unterdrücken, sich aber sichtlich freut, mit diesen kampferprobten Veteranen zusammen zu sein? Oder der, der die Uniformmütze so kess schief aufgesetzt hat und eine Gasmaske in der Hand hält? Vielleicht auch der Ernste mit der Brille. Und wer von den Älteren ist Buster Hastings? Der einschüchternde Kerl mit dem Walross-Schnurrbart oder der Dicke, dessen Knöpfe kaum zugehen? Oder auch der, der versonnen in die falsche Richtung schaut … Und das im Hintergrund ist natürlich Sea’s End House. Nelson erkennt die grauen Steinmauern, und dann wird ihm klar, dass das Foto wohl hinter dem Haus aufgenommen wurde, in dem Garten, der längst im Meer versunken ist.
Archies Zeitung liegt noch da, beim Fernsehprogramm des Vortags aufgeschlagen. Er hat die Sendungen umkringelt, die er anschauen wollte: Countdown, Coronation Street, Panorama , eine nachmittägliche Wiederholung des Films Went the Day Well? . Die zittrigen blauen Kulikringel machen Nelson plötzlich wahnsinnig traurig.
«Kommen Sie», sagt er zu Clough. «Hier ist nichts. Nehmen wir uns mal den Arzt vor.»
«Also keine Hinweise auf satanistische Rituale, Boss?»
«Bisschen Respekt, wenn’s geht», brummt Nelson. Aber noch während er das sagt, muss er daran denken, wie Archie tags zuvor Buster Hastings beschrieben hat. Großartiger Kerl , hat er gesagt.
Ein richtiger alter Satansbraten.
Wie Judy hat auch Ruth sich den Tag freigenommen. Morgen trifft Tatjana ein, und das Gästezimmer steht immer noch voll mit alten Kisten, deshalb hat Ruth Kate wie immer zur Tagesmutter gebracht. Anschließend hat sie sich ein paar Croissants zur Stärkung gekauft, eine Kanne Kaffee gemacht und ist nun eigentlich bereit, das Zimmer in ein reizvolles Juwel zu verwandeln, das allen amerikanischen Ansprüchen an Hygiene und Bequemlichkeit entspricht. Dummerweise sitzt sie jetzt schon seit zwanzig Minuten auf dem Boden und liest in einem zwei Jahre alten Guardian , den sie unten in einer Kiste gefunden hat, einen Artikel über Ian Rankin. Erst als Flint kommt und sich schnurrend auf Ians Gesicht stellt, fällt Ruth wieder ein, was sie zu tun hat. Herrje, wie kriegt eigentlich irgendwer überhaupt jemals etwas aufgeräumt? Sie packt die Sachen von einer Kiste in die andere, aber sie sind ja trotzdem immer noch da und im Weg. Wie schaffen es Leute wie ihre Schwägerin, dass in ihren Häusern alles in Schränken verstaut ist und die Vorratsdosen tatsächlich das enthalten, was außen draufsteht? Bei Ruth sind in der Zuckerdose Feuersteinsplitter, die von prähistorischer Werkzeugherstellung zeugen. In der Kaffeedose stecken diverse Stifte, und die Teedose enthält irgendeine merkwürdige, mit Sicherheit halluzinogene Kräutermischung von Cathbad.
Das ist gleich die nächste Bürde: diese alberne Namensweihe, die Cathbad plant. Sie soll morgen Abend stattfinden, und Cathbad hat anscheinend die halbe Universität dazu eingeladen. Und jetzt ist auch noch Tatjana da. Was sie wohl denken wird, wenn hier eine Gruppe Heiden um das unvermeidliche Feuer tanzt? Ruth hat
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