Gezeitengrab (German Edition)
Home-Guard-Einheit. Das war doch Jack Hastings’ Vater?»
«Ja. Buster Hastings. Großartiger Kerl. Ein richtiger alter Satansbraten, einer von der ganz alten Schule. Er war schon bei der ersten Runde an der Front gewesen, wissen Sie. Hart wie Kruppstahl. Und er führte ein strenges Regiment. Wir haben nicht einfach nur Soldaten gespielt. Wir haben Manöver gemacht. Nächtliche Manöver. Wir sind oben auf den Felsen entlangpatrouilliert. Und in Neumondnächten, den Dunklen , wie wir immer sagten, sind wir mit dem Boot rausgefahren.»
«Warum denn?», fragt Judy.
Archie treten fast die Augen aus dem Kopf. «Um nach Eindringlingen zu suchen, natürlich. Wir wussten es schon zu Anfang des Krieges, wir wussten, die Nazis würden kommen. Und Norfolk war der ideale Ort dafür. Die vielen kleinen Buchten. Gar nicht weiter schwierig, da nachts mit dem Boot zu landen. Daher die Manöver.»
«Und haben Sie irgendwann mal jemanden gesehen?», fragt Nelson beiläufig.
Archie Whitcliffe richtet sich noch gerader auf. «Falls das so wäre, würde ich es Ihnen bestimmt nicht sagen. Wir haben einen Blutschwur geleistet.»
Ruth, Craig und Ted sitzen im Sea’s End, dem Pub. Ruth weiß bereits, dass jedes Ausgrabungsunternehmen mit Ted unweigerlich im Pub endet. Sie trinkt Cola light, die Männer trinken Bier. Alles ist genauso wie bei ihrem Besuch mit Nelson: dieselben Männer am Tresen, die dieselbe Fernsehsendung schauen, derselbe klebrige Boden, dieselben Plastikspeisekarten. Anders ist nur, dass sie selbst nicht nervös und aufgedreht ist, sondern entspannt und gelöst die Gesellschaft ihrer Kollegen genießt. Seit Kate haben die Gelegenheiten, mit den Jungs einen trinken zu gehen – was ohnehin nie so recht Ruths Stärke war –, geradezu Seltenheitswert bekommen.
«Trink doch was Richtiges», sagt Ted. «Die haben hier sehr gutes Bier.»
«Das geht nicht. Ich muss ja noch fahren.»
«Eins macht doch nichts aus.»
«Und ich muss Kate abholen.»
«Ist das dein Baby?», fragt Craig. «Wie alt ist sie denn?»
«Neunzehn Wochen», sagt Ruth. Ob sie sich wohl jemals daran gewöhnen wird, Kates Alter in Monaten oder – unglaublicher Gedanke! – sogar in Jahren anzugeben?
«Eine richtig Süße», sagt Ted mit seinem irischen Akzent. «Sogar Nelson war hin und weg von ihr. Ist ja sonst nicht gerade für Gefühlsausbrüche bekannt, unser Nelson.»
Ruth hält ihre Miene bewusst neutral. Ted kann unmöglich etwas ahnen, sagt sie sich. Einfach ruhig bleiben. Ruhig bleiben und lächeln.
«Kennst du ihn denn gut?», fragt Craig jetzt Ted.
«Eigentlich nicht», sagt Ted. «Wir hatten bei einem anderen Fall schon mit ihm zu tun, stimmt’s, Ruth? Bisschen aufbrausend vielleicht, aber er scheint mir ein guter Polizist zu sein.»
«Und was hältst du von der ganzen Sache, Ruth?», fragt Craig.
«Na ja …» Ruth kann eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken, dass er sie nach ihrer Meinung fragt. «Ich würde sagen, die Toten liegen schon seit etwa siebzig Jahren dort, was uns mitten in den Krieg führen würde. Und es sind höchstwahrscheinlich Knochen von Männern zwischen einundzwanzig und vierzig, also im militärtauglichen Alter. Ich würde vermuten, es sind Soldaten.»
«Aber Uniformen haben wir keine gefunden», sagt Craig.
«Überhaupt keine Kleidung. Nur diesen Baumwollstoff. Vielleicht wurden die Leichen ja damit über den Strand gezogen.»
«Da ist auf jeden Fall irgendwas faul», meint Ted vergnügt. «Aus nächster Nähe erschossen, keinerlei Identifizierungsmöglichkeiten. Reden wir hier von Engländern oder Deutschen?»
Ruth glaubt, die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen, aber aus irgendeinem Grund möchte sie, dass Nelson als Erster davon erfährt. Sie weicht aus. «Ich habe eine Isotopenuntersuchung in Auftrag gegeben. Die wird uns einen groben Überblick geben, woher die Männer stammen können.»
«Ist Wissenschaft nicht was Tolles?», sagt Ted. Craig grinst. Die Archäologie unterteilt sich in diejenigen, die wie Ruths Chef bekennende Wissenschafts- und Technikjünger sind, und in diejenigen, die die herkömmlicheren Methoden vorziehen: graben, sortieren, beobachten. Ted gehört eindeutig zur zweiten Gruppe.
Obwohl es drei Uhr nachmittags ist, bestellt Ted sich eine Rindfleisch-Nieren-Pastete.
«Ich liebe gute Pasteten», erklärt er. «Macht heute kaum noch einer.»
«Ich schon», sagt Craig. «Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, daher kenne ich die ganzen traditionellen
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