Gezeitengrab (German Edition)
du einen Tee?» Michelle steckt den Kopf zur Tür des Arbeitszimmers herein, das Laura und Rebecca immer noch standhaft als «Spielzimmer» bezeichnen.
«Eigentlich sollte ich dir einen machen», sagt Nelson, ohne sich vom Fleck zu rühren.
«Lass nur», erwidert Michelle friedfertig. «Ich mach schon.»
Er hört sie in der Küche hantieren und wird von plötzlicher Zärtlichkeit für sie erfasst. Sie haben dieses Haus gemeinsam gestaltet: die Küche im Shaker-Stil, das Wohnzimmer mit den Ledersofas und dem großen Flachbildschirm, die vier Zimmer und die beiden Bäder. Und bald, wenn auch Rebecca zu studieren anfängt, werden sie hier allein sein. Nelson und Michelle haben geheiratet, als er dreiundzwanzig und sie einundzwanzig war. Kein halbes Jahr nach der Hochzeit war Michelle mit Laura schwanger. Sie waren so gut wie nie allein miteinander. In Blackpool, wo Nelson als junger Polizist praktisch rund um die Uhr arbeitete und Michelle sich um die Kinder kümmerte, ging ihre Mutter ständig bei ihnen ein und aus. Nelson hat das nie gestört. Allen Klischees zum Trotz versteht er sich blendend mit seiner Schwiegermutter, einer attraktiven Sechzigjährigen mit einer leidenschaftlichen Vorliebe für Pailletten-Oberteile, und außerdem war ihm klar, dass Michelle Gesellschaft brauchte. Und als er dann befördert wurde und die Familie nach Norfolk zog – Michelles Idee, wie er ihr gern unter die Nase reibt –, waren immer die Kinder da, ihre Freundinnen, andere Mütter, Nachbarn. Das Haus war eigentlich nie leer. Doch jetzt hört Nelson, dass oben der Wasserhahn tropft, und er hört die Tassen klirren, die Michelle aus der Spülmaschine nimmt. Bald wird es nur noch sie beide geben.
Nelson geht zu Michelle in die Küche, wo sie gerade die Post durchsieht.
«Warum öffnest du eigentlich keine Briefe, Harry?», fragt sie nachsichtig.
«Sind doch eh nur Rechnungen.»
«Trotzdem muss man sie aufmachen. Und bezahlen.»
Nelson geht darüber hinweg. Michelle bezahlt alle Rechnungen von ihrem gemeinsamen Konto. «Hast du was von Rebecca gehört?», fragt er.
«Ja. Sie bleibt heute über Nacht bei Paige.»
«Nie zu Hause, die junge Dame. Macht sie denn bei Paige auch ihre Hausaufgaben?»
«Projektarbeiten», korrigiert ihn Michelle. «Das nehme ich mal an. Sie ist sehr fleißig, das weißt du doch.»
Das weiß Nelson keineswegs. Wenn Rebecca mal zu Hause ist, verbringt sie den Großteil ihrer Zeit damit, Reality-Shows im Fernsehen zu gucken oder einer rätselhaften Tätigkeit namens «Chatten auf MSN» nachzugehen. Er kann sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal mit einem Buch gesehen hätte. Aber andererseits liest er ja selber nicht viel.
Michelle ist inzwischen beim letzten Brief angekommen, der in einem auffälligen lila Umschlag steckt. Sie hält ihn hoch, um ihn Nelson zu zeigen.
«Das ist doch mal was anderes.»
«Bestimmt irgendein Spinner», urteilt Nelson mit geübtem Polizistenblick.
Und in gewisser Weise stimmt das auch.
Einladung , steht in schwarzen Buchstaben auf einer zartvioletten Karte, zu Kates Namensweihe. Die Zeremonie findet statt beim Licht der Sterne. Bitte keine Geschenke, nur positive Energie .
«Kate», sagt Michelle. «Das muss von Ruth sein.»
«Wahrscheinlich.»
«Aber es klingt so gar nicht nach ihr. Ach so …» Sie dreht die Karte um und fängt an zu lachen. «Das ist dieser verrückte Hexenmeister, Cathbad. Der arbeitet doch auch an der Universität, nicht?»
Nelson nickt bestätigend.
«Na, er scheint sich ja sehr für Kate zu engagieren. Sag mal, Harry, glaubst du …?»
«Was?»
«Glaubst du, er ist ihr Vater?»
Nelson beobachtet seine Frau dabei, wie sie kochendes Wasser in die Teekanne gießt. Sie macht den Tee immer richtig in einer Kanne, so wie seine Mutter. Ohne Schuhe, in der langen schwarzen Hose, die ein bisschen über den Boden schleift, und mit dem offenen blonden Haar sieht Michelle wunderschön aus und irgendwie rührend, wie ein Kind, das die Kleider seiner Mutter angezogen hat. Aber sie ist kein Kind mehr; sie ist vierzig, eine Tatsache, die sie aktiv auszublenden versucht. Hat sie wegen Ruth wirklich nie Verdacht geschöpft? Nelson kennt die Antwort auf diese Frage. Mit der unbewussten Eitelkeit einer schönen Frau käme Michelle nie auf die Idee, Ruth – die übergewichtige, schlampige Ruth, die sich mehr Gedanken um ihre Karriere als um ihre Taille macht – als potenzielle Rivalin zu betrachten. Michelle mag Ruth, betrachtet sie aber
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