Gezeitengrab (German Edition)
mit Tatjana nie über Religion gesprochen. Sie weiß, dass Tatjana in ihrer Kindheit katholisch war, so wie Nelson, aber ein Bürgerkrieg ändert die Haltung der Leute zu Gut und Böse ja doch sehr. Ruth schaudert; sie kann nur hoffen, dass sie durch diese paar Wochen kommen, ohne über Leben und Tod und die vielen Stationen dazwischen zu reden. Sie werden nett und zivilisiert über Archäologie plaudern, Kate bewundern, Weißwein trinken und Norwich Castle besichtigen. Die Vergangenheit kann da völlig außen vor bleiben.
Was zum Teufel ist denn in dieser Kiste? Alte Tüten mit Staubproben und Feuersteinfragmenten, Vorlesungsmitschriften, das Modell eines Erdwerks aus der Steinzeit inklusive Plastikschafen, das für einen Tag der offenen Tür an der Universität entstanden ist, ein Theaterprogramm – Das Lächeln einer Sommernacht : Wann hat sie denn das bloß angeschaut? – und … großer Gott! Ein Foto von ihr, Peter und Erik vor dem Henge, mit triumphierenden Mienen, als hätten sie ihn eigenhändig erbaut.
Ruth betrachtet das Foto genauer. Herrje, sie trägt ja ein Bikini-Oberteil! Damals muss sie gut zwanzig Kilo leichter gewesen sein. Erik hat ein bauschiges weißes Hemd an, das leicht druidisch anmutet, und Peter ein Fußballtrikot des FC Chelsea. Sein Gesicht ist rot und verschwitzt. Der Sommer damals war sehr heiß, das weiß sie noch. Es war anstrengend, den ganzen Tag in der prallen Sonne zu arbeiten; sie trugen alle Hüte, Ruth einen Strohhut mit breiter Krempe, Peter eine dieser Legionärsmützen mit Nackenschutz, Erik einen eleganten Panamahut. Auf dem Foto schwenkt Erik seinen Hut, der sich weiß vor dem unfassbar blauen Himmel abhebt. Heute ist Erik tot und der Henge abgetragen; die Holzpfähle wurden zur Konservierung ins nächstgelegene Museum gebracht. Cathbad und die anderen Druiden haben damals heftig protestiert. «Sie gehören dem Wind und dem Himmel», hört Ruth Cathbad noch rufen. Sein lila Umhang flatterte hinter ihm, als er inmitten des heiligen Kreises Position bezog. «Ihr könnt sie nicht einfach fortbringen und in einem seelenlosen Museum verstauben lassen.» Erik hatte Verständnis für diese Position, doch die Universität, die das Ausgrabungsprojekt finanzierte, ließ sich nicht erweichen. Jetzt ruhen die Pfähle unter künstlich perfektionierten klimatischen Bedingungen hinter Rauchglas: kein Henge mehr, nur noch ein paar kurios geformte Holzstücke.
Ruth muss an Broughton Sea’s End denken, an das Meer, das immer weiter vorrückt, Felsen zerfrisst, Wände und Mauern zerstört, Geheimnisse aufdeckt. Gab es wirklich eine Verbindung zwischen den Toten und den Ölfässern? Der Stoff mit dem komischen Geruch zumindest scheint identisch zu sein. Sie hat ihn ins Labor gebracht – der Wagen stinkt immer noch danach – und wird ein paar Untersuchungen damit durchführen. Sechs deutsche Soldaten, erschossen und unter einer abgelegenen Felswand vergraben, im Sand, damit die Knochen schnell verwesen. Und Ölfässer mit Benzin und Dieseltreibstoff. Das erinnert Ruth an einen Film, den sie vor Jahren zusammen mit ihrem Vater gesehen hat. Nazis, die in ein englisches Dorf einmarschieren. Wie hieß er gleich noch?
Mit dem Aufräumen ist sie keinen Schritt weitergekommen. Auf dem Bett stapeln sich immer noch die Kisten, obwohl Flint ein freies Kissen gefunden hat und jetzt eifrig darauf herumtrampelt. Sie wird wohl rigoros sein müssen. So hat Erik sie manchmal genannt: Ruth die Rigorose. Jetzt ist die Zeit gekommen, diesem Spitznamen gerecht zu werden. Sie wird ein paar Müllsäcke holen und den ganzen Schamott entsorgen.
Als sie das Wohnzimmer durchquert, sieht sie erschrocken, dass vor ihrer Haustür jemand steht. Die Klingel funktioniert schon seit Jahren nicht mehr, Ruths seltene Gäste wissen das und machen sich durch Klopfen und Rufen bemerkbar. Weiß der Himmel, wie lange dieser höfliche Mensch schon da draußen wartet. Ruth öffnet, eine Entschuldigung auf den Lippen.
Vor ihr steht ein Mann und lächelt sie an. Er ist blond und attraktiv, und man sieht ihm sofort an, dass er nicht von hier ist. Vielleicht liegt es ja an der grünen Jacke oder am Rucksack – oder an dem Lächeln, das auffallend weiße Zähne offenbart.
«Doktor Ruth Galloway?»
«Ja.» Ruth schätzt es, wenn man sie mit ihrem Titel anredet. Sie sieht keinen Anlass, sich von Wildfremden «Ruth» nennen zu lassen, und die Anrede «Miss» kann sie nicht ausstehen.
«Mein Name ist Dieter Eckhart. Ich würde
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