Gezeitengrab (German Edition)
gern mit Ihnen über ein paar tote deutsche Soldaten reden.»
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«Kommen Sie doch herein», sagt Ruth.
Höflich steigt Dieter Eckhart über die verschiedenen Stapel aus Büchern und Ordnern – Teil der Aufräumarbeiten – auf dem Wohnzimmerboden und setzt sich auf den äußersten Rand des Sofas. Ruth bietet ihm einen Tee an, gerät dann aber ins Schwimmen, als er statt Milch Zitrone möchte. Sie hat keine Zitronen im Haus, nur ganz hinten im Kühlschrank liegt noch eine verschrumpelte Limette, ein Überbleibsel aus Shonas Tequila-Phase. Das muss reichen.
«Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie zu Hause belästige.» Eckhart nimmt das unappetitliche Getränk mit allen Anzeichen von Freude entgegen. «Ich hatte bei der Universität nachgefragt, welcher forensische Archäologe für den Fall zuständig ist.»
Ruth freut sich, dass man sie offenbar als zuständig betrachtet, begreift aber immer noch nicht, wie Dieter Eckhart so schnell von den Toten erfahren konnte. Whitcliffe hat dafür gesorgt, dass in der Presse nicht darüber berichtet wird.
Doch das Rätsel klärt sich rasch auf. Eckhart öffnet seinen Rucksack und zieht eine Karte von Norfolk, ein Buch über die D-Day-Invasion und einen zerknitterten, mit schwarzer Tinte geschriebenen Brief hervor.
«Ich bin Militärhistoriker», erklärt er, «und habe einige Artikel über den angeblichen Invasionsversuch der Deutschen in Norfolk während des Zweiten Weltkriegs verfasst. Letzten Monat bekam ich auf einmal diesen Brief hier.»
Er reicht ihn Ruth.
Sehr geehrter Herr Eckhart,
bitte verzeihen Sie, dass ich so frei bin, Ihnen zu schreiben. In der letzten Ausgabe der History Today las ich Ihren Artikel mit dem Titel «Das Geheimnis der Invasion», der höchst lebhafte Erinnerungen in mir wachgerufen hat – Erinnerungen, die ich über viele Jahre hinweg zu verdrängen versucht habe. Zwischen 1940 und 1941 war ich bei der Home Guard in Broughton Sea’s End. Ich gehörte zu den drei jüngsten Mitgliedern einer Einheit unter der Führung eines gewissen Buster Hastings. Inzwischen bin ich sechsundachtzig und bei schlechter Gesundheit, doch die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis aus dem Jahr 1940 hat mich mein Leben lang nicht losgelassen. Ich habe das Gefühl, dass ich mit Ihnen darüber reden sollte. Sie sind jung, Akademiker und Deutscher. Aus all diesen Gründen ist es mir ein Bedürfnis, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Vor vielen Jahren, Herr Eckhart, ist ein großes Unrecht geschehen, und wenn wir den nachfolgenden Generationen die Wahrheit vorenthalten, dann wird das Böse weiterhin im Verborgenen lauern.
Hochachtungsvoll, Ihr einstiger Feind
Hugh P. Anselm
Ruth sieht zu Dieter Eckhart hin, der ungerührt an seinem Tee nippt. Ihre Gedanken rasen. Ein angeblicher Invasionsversuch der Deutschen in Norfolk. Nazi-Kommandeure, die durch die Straßen patrouillieren. Sechs Tote, vergraben unter einem Felsen. Dann wird das Böse weiterhin im Verborgenen lauern.
«Ich habe mich erkundigt», sagt Eckhart. «Es gab tatsächlich eine Einheit der Home Guard, die unter der Führung eines Mannes dieses Namens stand. Also habe ich beschlossen, nach England zu kommen. Ich plane schon seit Jahren, ein Buch über diese Invasion zu schreiben.»
«Aber es gab doch gar keine Invasion, oder?», fragt Ruth. «Ich meine, ich kenne natürlich die Gerüchte, und es gab auch mal einen Film darüber. Den habe ich mit meinem Vater gesehen. Aber Beweise gab es nie.»
«Ich glaube, die gab es durchaus.» Eckhart stellt seine Tasse auf den Tisch. «Sie wurden nur vorsätzlich zerstört.»
«Dann glauben Sie also, die Deutschen sind hier eingefallen? In Norfolk?»
Eckhart mustert sie. Er hat auffallend blaue Augen, und Ruth fühlt sich an Erik erinnert. Als würde er einen vorbereiteten Text ablesen, sagt er: «Im September 1940 meldeten die Einwohner des Dorfes Crostwick in Norfolk die Sichtung eines Konvois aus Armeelastern mit toten deutschen Soldaten. Etwas später im selben Monat wurden an der Küste von Kent, zwischen Hythe und St. Mary’s Bay, zwei Leichen gefunden. Anhand ihrer Uniformen konnte man sie als deutsche Soldaten identifizieren. Die Leichen waren von der Taille abwärts verbrannt.»
«Verbrannt?»
Eckhart spricht weiter, als hätte er sie nicht gehört. «Am 21. Oktober wurde am Strand von Littlestone-on-Sea die Leiche des deutschen Panzerabwehrkanoniers Heinrich Poncke geborgen. Über den Fund wurde damals auch in der Presse
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