Gezeitengrab (German Edition)
berichtet.»
«Aber ich dachte, diese Geschichten hätten sich alle als falsch herausgestellt.» Ruth muss zugeben, dass die Aufzählung sie beeindruckt. «Die Invasion gehört zu den vielen Legenden aus dem Zweiten Weltkrieg. Wie die fallschirmspringenden Nonnen oder die Hitler-Doppelgänger.»
«Die fallschirmspringenden Nonnen mögen eine Legende sein», sagt Eckhart mit dem Anflug eines Lächelns, «aber die Invasion hat definitiv stattgefunden. Es war zwar nicht der großangelegte Einsatz, der ursprünglich geplant war, das sogenannte Unternehmen Seelöwe, aber ich glaube, dass im September 1940 tatsächlich kleinere Erkundungseinheiten an den Küsten von Norfolk und Kent gelandet sind. Die Sache wurde dementiert, und die beteiligten Soldaten sind wie vom Erdboden verschluckt.»
«Wie können sie denn vom Erdboden verschluckt sein?», fragt Ruth, doch gleichzeitig drängt sich ihr der unbehagliche Gedanke an die Toten aus Broughton Sea’s End auf: Leichen, im Sand vergraben, Sand, der Knochen zerfrisst. «Und wieso sollte jemand eine solche Invasion abstreiten wollen, wenn sie tatsächlich stattgefunden hat?»
«Weil», sagt Eckhart, «wir es hier mit einem britischen Kriegsverbrechen zu tun haben.»
Ruth schweigt. Sie denkt an Bosnien und das Kriegsverbrechertribunal, an den Brief von Hugh P. Anselm. Vor vielen Jahren ist ein großes Unrecht geschehen.
Eckhart mustert sie einen Augenblick lang, dann fährt er fort: «Ich bin gestern in England eingetroffen und sofort nach Broughton Sea’s End gefahren. Dort sagte man mir, dass Buster Hastings’ Sohn immer noch dort lebt, und ich bat ihn um ein Gespräch. Er hat abgelehnt. Er wolle, und das hat er wortwörtlich so gesagt, grundsätzlich nicht über seinen Vater reden, der ein Kriegsheld war, und erst recht nicht mit einem Deutschen . Das musste ich akzeptieren. Ich bin ins Pub gegangen. Und dort hatte ich Glück.» Er macht eine Pause.
«Inwiefern?», fragt Ruth folgsam.
«Ich habe Jack Hastings’ Tochter Clara kennengelernt. Sie hat mir von den Leichen erzählt, die am Strand gefunden wurden. Da wusste ich es. Ich wusste, dass ich die Wahrheit aufgedeckt hatte.»
Dass ich die Wahrheit aufgedeckt habe, meinen Sie, denkt Ruth. Oder besser gesagt Ted, Trace, Steve und Craig. Eckharts Art wird ihr zunehmend unsympathisch.
Laut sagt sie: «Ich verstehe das nicht. Wieso sind Sie nicht einfach zu diesem Hugh Anselm gegangen, der Ihnen den Brief geschrieben hat?»
«Das war natürlich auch mein erster Gedanke», antwortet Eckhart ungerührt. «Aber als ich an seinem Häuschen ankam, das sich in einer Art … wie sagt man? Seniorenresidenz? … befindet, musste ich feststellen, dass er tot ist.»
«Tot?»
«Ja. Vor etwa einer Woche hat der Hauswart ihn tot auf seinem Treppenlift gefunden.»
«Auf dem Treppenlift?»
«Ja. Ein Herzinfarkt, wurde mir gesagt.»
Ruth läuft ein Schauder über den Rücken. Sie weiß, dass an Hugh Anselms Tod nichts Verdächtiges sein kann, schließlich war er sechsundachtzig und bezeichnete seinen Gesundheitszustand selbst als «schlecht». Dennoch: Der Brief mit all seinen Andeutungen von etwas Bösem und Unrechtem hat ihr zugesetzt. Zu sehr erinnert er sie an andere Briefe, in denen es um Tod, Riten und Opfer ging, Briefe, die sie überhaupt erst mit Nelson und der Verbrechensermittlung in Kontakt gebracht haben. Und die Vorstellung, dass der Verfasser tot ist …
«Es gibt noch einen weiteren Zeugen aus dieser Zeit», sagt sie. Diese Information kann schließlich unmöglich geheim sein. «Archie Whitcliffe. Er wohnt in einem Seniorenheim irgendwo in der Nähe von Broughton.»
Dieter Eckhart lehnt sich zurück, presst die Lippen zusammen und zeigt ein dünnes Lächeln. «Archie Whitcliffe ist ebenfalls tot. Er ist gestern gestorben.»
«Sind Sie sicher?»
«Absolut. Ich komme gerade aus dem Seniorenheim. Anscheinend ermittelt die Polizei bereits.»
Die Polizei. Mit anderen Worten: Nelson. Ruth fühlt sich merkwürdig gekränkt, dass Nelson ihr nichts von Archie Whitcliffes Tod erzählt hat. Aber es ist ja auch gestern passiert. Als sie ihm erzählt hat, dass die Toten Deutsche sein müssen, kam er gerade von seinem Gespräch mit Archie. Da fällt ihr etwas ein.
«Woher wissen Sie eigentlich, dass die Toten Deutsche sind?», fragt sie.
Eckhart gerät zum ersten Mal leicht aus der Fassung. «Das war nur eine Vermutung», sagt er schließlich steif. «Aufgrund der vorliegenden Informationen.» Mit seinen blauen
Weitere Kostenlose Bücher