Gezeitengrab (German Edition)
Mr. Hastings?», fragt Nelson. «Ist Ihnen jemand aufgefallen, der vor dem Haus herumgelungert hätte?»
«Nein. Ich war gegen zehn das letzte Mal mit den Hunden draußen. Die hätten doch gebellt, wenn da jemand gewesen wäre, den sie nicht kennen.»
«Glauben Sie etwa, er wurde … ermordet?», fragt Stella fast im Flüsterton.
«Ich will keine Möglichkeit ausschließen», sagt Nelson. «Aber jetzt lasse ich Sie mal in Frieden. Eine Kollegin wird Sie wegen der Aussage kontaktieren, Miss Hastings. Passen Sie auf sich auf, ja?»
Bevor er zurück zum Revier fährt, bittet Nelson Hastings, ihn noch um das Haus zu führen. Hinter den Fenstertüren und der Terrasse sind nur noch ein paar Meter Grundstück übrig, bevor es hinter dem kaputten Zaun steil zum Meer hin abfällt. Nelson geht so nah ran, wie er sich traut, und schaut hinunter. Tief unter ihm bricht sich das Meer an den Felsen, den schartigen, gemeingefährlich aussehenden Trümmern zahlloser Steinschläge. Zum ersten Mal wird Nelson klar, wie dicht vor dem Untergang das Haus tatsächlich steht.
«Waren Sie hier mit den Hunden spazieren?», fragt er.
«Nein. Das ist viel zu gefährlich. Die stürzen da einfach runter, alles schon da gewesen. Ein Hund jagt einer Möwe hinterher, und – paff! Nein, abends gehe ich mit ihnen immer vors Haus.»
Nelson schaut zum Haus zurück. Hier gibt es nichts, wo sich ein potenzieller Mörder verstecken könnte: keine Büsche, keine Bäume, keine Anbauten. Nur nackte graue Mauern und verrammelte Fenster. Er geht wieder um das Haus herum bis dorthin, wo der Steilpfad zum Strand hinunterführt. Vor einer kleinen grünen Tür bleibt er stehen.
«Was ist da drin?»
«Das ist der Gartenschuppen. Da haben wir unsere Terrassenmöbel aufbewahrt, als wir noch eine richtige Terrasse hatten.»
Nelson drückt die Klinke. Die Tür ist verschlossen.
«Ist der Raum immer abgeschlossen?», fragt er.
«Ja. Benutzt ja im Grunde keiner mehr.»
Im Vorgarten stehen ein paar Bäume, niedergedrückt vom Wind, der ständig vom Meer heranweht. Trotzdem wäre es denkbar, dass sich jemand im Dunkeln dahinter verstecken kann.
«Sie haben also nichts gesehen, als Sie gestern Abend hier draußen waren?»
«Nein. Wie gesagt, die Hunde hätten angeschlagen, wenn hier wer herumgelungert hätte.»
«Zumindest, wenn sie denjenigen nicht kennen.»
Hastings fährt herum und sieht ihn an, sagt aber nichts. Als Nelson losfährt, sieht er Jack Hastings immer noch im Vorgarten stehen und mit gerunzelter Stirn sein Haus betrachten.
Nelson fährt schnell und überholt die unzähligen Sonntagsfahrer, die an der Küste entlangzuckeln. Dieter Eckhart wurde ermordet, daran besteht kein Zweifel. Ob er seinen Mörder kannte, wird sich noch herausstellen. Aus Erfahrung weiß Nelson, dass es meistens so ist. Neun von zehn Morden werden von einer Person begangen, die dem Opfer nahesteht. Hunde, die nicht anschlagen: Kommt das nicht auch in einer Sherlock-Holmes-Geschichte vor? Archie Whitcliffe hätte das jetzt gewusst. Hat sich gestern Abend jemand im Garten versteckt? Oder kam der Mörder womöglich von drinnen? Nelson würde einiges darum geben zu wissen, wem Dieter Eckhart die SMS geschickt hat, als er draußen vor Sea’s End House im Wagen saß.
Verdächtigt er etwa Jack Hastings, einen hochangesehenen Politiker, drei Menschen getötet zu haben, nur um den Ruf seines Vaters nicht zu beschädigen? Oberflächlich betrachtet klingt das unwahrscheinlich, doch Nelson weiß, dass man immer unter die Oberfläche sehen muss. Buster Hastings’ Andenken wird in Sea’s End House sehr in Ehren gehalten, doch Dieter Eckhart hätte ihn ohne jeden Skrupel als Kriegsverbrecher entlarvt, wenn er nur die nötigen Beweise gehabt hätte. Aus Jack Hastings’ Sicht hat er schließlich auch seine Tochter verführt. Nelson hat sein Gesicht gesehen, als Irene von «Knutschen» sprach. Jack Hastings war nicht glücklich damit, dass seine Tochter mit einem Deutschen zusammen war. Überhaupt nicht glücklich.
Zurück im Revier, findet er eine bleiche Judy an ihrem Schreibtisch vor. Die Mitarbeiter wurden alle zum Dienst beordert. Whitcliffe, der über das Ergebnis der Obduktion seines Großvaters hellauf entsetzt war, hat den Fall zur obersten Priorität gemacht.
«Wie geht’s Ihnen?», fragt Nelson.
«Ich wollte, ich wäre tot.»
«Tote haben wir hier schon genug. War’s gut gestern?»
«Großartig. Ab Mitternacht kann ich mich an nichts mehr erinnern.»
«Hat Ruth
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