Gezeitengrab (German Edition)
er wieder hinter dem Sofakissen.
«Moment, ich hab’s hier.» Durchs Telefon hört Ruth Judy mit Papier rascheln. «Er schreibt: ‹Zu lesen in dieser Reihenfolge: 3, 3, 3, 2, 3, 3, 4, 3.› Verrückt, oder?»
«Wer weiß?», sagt Ruth und beugt sich wieder über die Liste. Nelson, der mit Kate auf dem Boden hockt, sieht zu ihr hoch.
«Was ist denn, Ruth?»
«Ich weiß auch nicht. Ich dachte nur gerade … Hatte er nicht eine Schwäche für Kreuzworträtsel?»
«Nein, das war Hugh Anselm.»
«Aber Archie vielleicht auch?»
«Kann sein. Auf jeden Fall hat er immer diese Sendung geschaut, Countdown . Aber Cloughie meint, das gucken alle alten Leute.»
«Hm.» Ruth schaut die Sendung gelegentlich selber, aber das wird sie Nelson jetzt nicht auf die Nase binden.
«Dann glaubst du also, er hat uns eine Botschaft hinterlassen?», fragt Nelson grinsend.
«Könnte doch sein.» Ruth vertieft sich wieder in die Faxseite, um nicht zu viel davon mitzubekommen, wie Nelson für Kate den Bären spielt.
Immer muss Ruth alles so kompliziert machen, denkt Nelson auf der Rückfahrt nach King’s Lynn, wo er wohnt. So sind sie, die Akademiker. Klar, ursprünglich hat er sie kennengelernt, weil er ihre professionelle Meinung brauchte. Er hatte sie wegen dieser Eisenzeitleiche hinzugezogen, aber dann hat er sie auch wegen ein paar seltsamer Briefe um Rat gefragt, die er bekommen hatte und die voller Anspielungen auf Mythologie, Rituale und Opferbräuche waren. Ruth hat tolle Arbeit geleistet, alle Verweise nachgeschlagen und herausgefunden, was dieser Spinner eigentlich sagen wollte. Aber vielleicht wird sie dadurch ja auch unfähig, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Manchmal ist eine Bücherliste eben nur eine Bücherliste. Das sagt er seinem Team auch immer. «Denkt nicht so kompliziert. In neun von zehn Fällen ist Polizeiarbeit total simpel. Der Ripper von Yorkshire wurde über ein Nummernschild gefasst, Al Capone über seine Steuerhinterziehungen. Vernachlässigt also nie die Routinekontrollen.» Aber Cloughie und Co laufen natürlich auch nicht Gefahr, zu intellektuell zu werden.
Katie allerdings ist echt ein tolles Kind. Er hatte ganz vergessen, wie viel Spaß man in dem Alter mit Kindern haben kann. Michelle hat ihn immer geschimpft, wenn er die Mädchen vor dem Schlafengehen zu sehr aufgedreht hat. Für die beiden hat er auch immer den Bären gespielt – Bewährtes ist doch immer noch am besten. Er weiß noch, wie Laura vor lauter Lachen vom Bett fiel und dann geheult hat, wie Rebecca kreischte, als er sie mit der Gorilla-Maske erschreckt hat. Vielleicht hatte Michelle ja irgendwo doch recht. Er kann nachvollziehen, dass es nicht allzu spaßig ist, den lieben langen Tag mit kleinen Kindern zu Hause zu hocken, die ganze Erziehung und den anderen langweiligen Kram am Hals zu haben, nur damit dann kurz vor dem Schlafengehen jemand auftaucht und den Bären spielt. Aber ein bisschen Spaß musste er schließlich mit ihnen haben dürfen. In den ersten Jahren hat er seine Töchter ja kaum mal bei Tageslicht gesehen. Mit Katie wird das auch nicht anders werden, denkt er. Sogar noch schlimmer, weil sie ja nicht weiß, wer er ist. Er wird immer nur der komische Fremde sein, der lustige Grimassen schneidet und schöne Geschenke mitbringt. Cathbad wird sehr viel präsenter in ihrem Leben sein als er. Verbissen wechselt er den Gang.
Michelle ist nicht da, dafür – o Wunder! – Rebecca. Und sie ist – o noch viel größeres Wunder! – beim Hausaufgabenmachen. Gut, sie hat ihren iPod auf den Ohren, schickt ihren Freundinnen SMS und mampft ein Käsebrot, aber zwischendurch schreibt sie tatsächlich einen Aufsatz mit dem Titel: «Der Einfluss der Küstenerosion auf ländliche Dorfgemeinschaften».
«Worum geht’s denn da, Schatz?», fragt Nelson und drückt ihr einen Kuss aufs Haar.
«Das ist für Umweltwissenschaft. Es geht um die vielen Leute, die stinksauer sind, weil ihre Dörfer weggeschwemmt werden.»
Nelson muss an Jack Hastings denken, der nach allem, was man so hört, mehr als stinksauer ist, weil sein Sea’s End House weggeschwemmt wird. Whitcliffe hat ihm das Landvermessungsgutachten gezeigt, das sich wie ein Todesurteil für das Haus liest. Nelson denkt an den Garten, der nur noch ein paar Meter breit ist und dann schwindelerregend steil zu den Felsen unten abfällt, und versucht sich vorzustellen, wie es dort wohl früher ausgesehen hat: ein gepflegter Rasen mit diesen schicken hineingemähten Streifen,
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