Gezeitengrab (German Edition)
vielleicht hat sie ihr übel genommen, dass sie Phil an dem Abend so mit Beschlag belegt hat, oder sie ist einfach nur eifersüchtig auf Tatjanas Verhältnis zu Ruth. Jedenfalls hat sie, nach kurzem, kühlem Smalltalk mit ihr, Ruth gegenüber verkündet, sie finde Tatjana «oberflächlich». Ein paar Tage später wollte sie wissen: «Wie findet deine bosnische Freundin mich denn?» Worauf Ruth wahrheitsgemäß erwidert hat: «Sie hat gar nicht von dir gesprochen.»
Jetzt sagt sie: «Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat sie bei Judy oder sonst irgendwem übernachtet.»
«Oder sie hat jemanden kennengelernt.»
Ruth muss an den Mann denken, mit dem Tatjana getanzt hat. Er sah wirklich umwerfend aus – aber würde Tatjana denn Rick betrügen?
«Sie ist verheiratet», sagt sie.
Shona zuckt die Achseln. «Wann hätte das je irgendwen an irgendwas gehindert? Wer war denn das gerade am Telefon?»
«Nelson.»
«Und was wollte er?»
«Es gibt neue Entwicklungen in unserem Fall.»
«Herrje, Ruth, jetzt redest du auch schon wie die Polizei. Ich mach mal Kaffee, ja?»
Nelson geht langsam über den Küstenpfad zurück. Die Tatortbeamten sind gerade dabei, Dieter Eckhart in den weißen Leichentransporter zu verladen. Clara und Jack Hastings sehen zu. Als sie den Toten sah, hat Clara hysterisch geschrien, doch jetzt ist sie still und hat den Kopf an die Schulter ihres Vaters gelegt. Er ist kleiner als sie, doch die Art, wie er ihr übers Haar streicht, wirkt ungeheuer fürsorglich. Nelson ist gerührt; er muss an seine eigenen Töchter denken.
Clough redet noch mit dem Fischer, der seine Aussage mit der Abgeklärtheit eines Menschen macht, in dessen Netzen sich regelmäßig Tote verheddern. Den ersten Notruf hat ein Streifenpolizist entgegengenommen, doch als klar war, dass eine Leiche im Spiel ist, wurde Nelson verständigt. Als er ankam, war Jack Hastings bereits da und sah mit seinen aufgeregt bellenden Hunden zu, wie der Fischer und der Streifenpolizist den Toten hinter die Gezeitenlinie zogen. Nelson überlegte noch, ob er Clara verständigen sollte, da erschien sie schon, einen Mantel über den Schlafanzug geworfen. Clough versuchte ein paar Erste-Hilfe-Maßnahmen, gab aber schnell auf. Als er den Toten in die stabile Seitenlage brachte, kam ein Schwall Wasser aus seinem Mund, und sein Kopf fiel mit verdrehten Augen in den Nacken. Da wurde Clara hysterisch.
Der stellvertretende Rechtsmediziner, der Nelson sehr viel lieber ist als Chris Stephenson, vermutet, dass die Leiche höchstens zwei Stunden im Wasser gelegen hat, doch auch das hat schon genügt, um Eckharts attraktives Gesicht aufzuschwemmen und scheußlich zu entstellen. Er trägt ein weißes Hemd und eine schwarze Hose, und die Stichwunde – das Salzwasser hat alles Blut weggespült – befindet sich fast direkt über dem Herzen. Nelson lässt sich Verstärkung schicken, um bei der Suche nach der Mordwaffe zu helfen, bezweifelt aber, dass sie sich finden lässt. Eckhart hatte sich zwischen zwei Felsen verkeilt, andernfalls wäre auch er von der Strömung mitgerissen worden. Das Messer ist inzwischen wahrscheinlich schon fast in Norwegen.
«Kommen Sie», sagt Nelson zu Clara und ihrem Vater. «Es ist schweinekalt hier draußen. Gehen wir doch ins Haus.»
An der Tür empfängt sie Stella Hastings und führt Clara nach drinnen. «Komm, mein Schatz. Wir ziehen dir jetzt etwas an, und dann bekommst du eine heiße Schokolade zum Aufwärmen.»
Nelson bleibt in der Tür stehen. Er hat das Gefühl, im Weg zu sein, weiß aber, dass er mit hineinkommen und nach Möglichkeit mit Clara reden muss. Außerdem hätte er auch gern eine heiße Schokolade. Jack Hastings erbarmt sich seiner.
«Kommen Sie mit in die Küche, da trinken wir was Warmes», sagt er. «Sie müssen sicher noch mit Clara reden. Sie hat den armen Tropf schließlich als Letzte lebend gesehen.»
Wenn man mal vom Mörder absieht, denkt Nelson, als er Hastings durch den steinernen Flur folgt. Aber er registriert, dass aus dem «Kraut-Reporter» ein «armer Tropf» geworden ist.
Hastings’ Mutter Irene sitzt wie immer strickend am Kamin. Nelson überlegt, ob ihr schon jemand von den Ereignissen des Morgens berichtet hat, doch als er sich an den sauber geschrubbten Eichentisch setzt, dreht sie sich zu ihm um und fragt: «War er es? Der junge Deutsche?»
«Ja.»
«Armer Kerl.» Irene strickt eifrig weiter, ohne hinzusehen. «Der Pfad ist furchtbar glitschig. Man kann ganz leicht ausrutschen, vor allem,
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