Gezeitengrab (German Edition)
davor, sich amüsieren zu müssen, und davor, dass Kate etwas passieren könnte. Und davor, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass sie in Nelson verliebt ist.
Mit einem Seufzer rollt sie sich auf dem Sofa zusammen und lauscht dem Rauschen des Meeres.
In Sea’s End House brennt oben im Turm ein einzelnes Licht. Wie einst der Strahl des verlassenen Leuchtturms fällt es auf die schwarzen Wellen, die unten an Land donnern. Sie schlagen an die Mauern des Hauses, als wollten sie hinein, verwandeln die schmale Bucht in einen reißenden Strudel, der sich hebt und senkt, so wie der Mond zu- und abnimmt. Als schließlich die Ebbe einsetzt, treten sie den Rückzug an, lecken an den Felsen am Strand, wo die sechs deutschen Soldaten begraben lagen, und lassen den Steilpfad glänzend nass zurück. Im seichten Wasser treibt sanft ein Toter, das dunkle Wasser spielt mit seinem blonden Haar.
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18
Zuerst meint Ruth, Kate würde schreien. Doch dann stellt sie fest, dass das gellende Geräusch vom Telefon kommt, das auf dem Tisch gleich neben ihrem Ohr klingelt. Typisch. Ausgerechnet wenn Kate einmal nicht beim ersten Morgengrauen aufwacht, ruft jemand am frühen Morgen an. Wer in aller Welt kann das sein?
«Ich bin’s», knurrt eine schroffe Stimme, obwohl auch das Display bereits «Nelson» verkündet.
«Was ist denn?», fragt Ruth verschlafen. Nach und nach wird ihr klar, dass sie auf dem Sofa liegt, einen steifen Hals hat und wahnsinnige Kopfschmerzen.
«Dieter Eckhart ist tot. Ein Fischer hat heute früh seine Leiche gefunden. Er wurde bei Sea’s End House an Land gespült.»
«Was?»
«Eckhart ist tot. Cloughie und ich sind schon in Broughton.»
«Wie spät ist es denn?»
«Neun. Ich dachte mir, es bringt wenig, Johnson jetzt schon aus dem Bett zu klingeln. Ihr hattet’s wohl nett gestern Abend, was?»
Neun Uhr! Warum ist Kate dann noch nicht wach? Ruth ist schon kurz davor, panisch nach oben zu stürmen, da sieht sie Shona mit Kate auf dem Arm die Treppe herunterkommen. Kate sieht hochzufrieden aus, Shona schaut triumphierend.
Ruth zwingt sich, sich wieder Nelson zuzuwenden.
«Hatte er einen Unfall?», fragt sie. «Ist er ertrunken?»
Nelson lacht freudlos. «Der Rechtsmediziner ist schon da. Todesursache war ein Messerstich ins Herz. Das war kein Unfall.»
«Weiß Clara es schon?»
«Ja. Sie hat die Leiche identifiziert.»
In Ruths Kopf fahren so viele Gedanken Karussell, dass ihr ganz schlecht wird. Clara, Dieter, ein Messerstich ins Herz, Tatjana, Judy, der Fischer, der die Leiche am Morgen gefunden hat. Doch dann streckt Kate die Arme nach ihr aus, und alles andere ist vergessen.
Die Kleine kräht laut ins Telefon.
«Ist das Katie?» Nelsons Stimme klingt gleich viel weicher. «Ich ruf dich später noch mal an.»
Die Verbindung bricht ab. Ruth mustert Shona, die Kate immer noch festhält und sichtlich stolz auf sich ist.
«Wir sind schon seit Stunden auf», sagt sie. «Ich habe Kate angezogen und ihr die Flasche gegeben. Und dann haben wir gespielt.»
Von den beiden scheint Kate die Erfahrung deutlich besser überstanden zu haben. Ihre Augen strahlen, und sie sprüht vor Energie. Shona hat ihr eine Schlafanzughose angezogen und einen Pullover, der noch zwei Nummern zu groß ist, doch diese äußerlichen Nachteile weiß sie souverän zu überspielen. Sie greift nach dem Telefon und steckt es probehalber in den Mund. Shona hingegen wirkt blass und unausgeschlafen, sie ist ungekämmt und hat ihr Oberteil verkehrt herum an. Aber sie ist so offensichtlich froh, die Nacht und den Morgen gut überstanden zu haben, dass Ruth von einer Welle der Zuneigung zu ihr erfasst wird.
«Das hast du toll gemacht», sagt sie, nimmt Shona das Baby ab und legt es auf den Boden, wo Kate sofort anfängt, sich über den Teppich zu rollen: ihr Lieblingskunststück. «Hast du mich heute Nacht heimkommen hören?»
«Nein. War’s spät? Hast du dich gut amüsiert?»
«Na ja. Ich glaube, ich bin einfach zu alt für solche Clubs.»
«Blödsinn. Du brauchst nur die richtige Gesellschaft. Wo steckt Tatjana?»
Shona steht Tatjana ausgesprochen zwiespältig gegenüber. Vor ihrer Ankunft war sie vor allem neugierig. «Du hast so viel von der Zeit in Bosnien erzählt. Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen.» Doch seit sie sich dann auf Kates Namensweihe begegnet sind, verhält Shona sich äußerst reserviert. Vielleicht hat sie ja nicht damit gerechnet, dass Tatjana so attraktiv ist,
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