Gezeitengrab (German Edition)
mit den wildesten Geschichten: Strände, die schwarz sind von Leichen, brennende Meere, U-Boote voll abgetrennter Gliedmaßen, geheime deutsche Stützpunkte vor der irischen Küste, dreißigtausend Tote, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, die an der Küste im Süden an Land geschwemmt wurden. Nelson kann sich für Verschwörungstheorien genauso sehr begeistern wie die meisten anderen Leute – einmal hat Cathbad ihn sogar fast davon überzeugt, dass die Amerikaner gar nicht auf dem Mond gelandet sind –, aber als Polizist braucht er doch zumindest ein paar kleine Beweise. Es ist ja schön und gut zu behaupten, die Regierung hätte alles vertuscht, aber kann man eine Invasion dieser Größenordnung wirklich einfach so totschweigen? In einem Ort wie Broughton hieß das doch im Endeffekt, dass man sich das Schweigen eines ganzen Dorfes erkaufen musste.
Aber was, wenn genau das passiert ist? Was, wenn inmitten der allgemeinen Hysterie tatsächlich eine kleine Abordnung Deutscher in einer abgelegenen Bucht in Norfolk gelandet wäre? Dort trafen sie allerdings nicht auf verschlafene Dorfbewohner und überraschte Fischer, sondern auf eine straff organisierte militärische Einheit, die auch vor dem Töten nicht zurückschreckte.
Fast will er schon Schluss machen, da entdeckt er auf einer Website mit dem Titel «Flammen über England» folgenden Abschnitt:
Der Plan war ganz einfach. Im Schutz der Dunkelheit würden mehrere ältere Tankschiffe, den Laderaum gefüllt mit hochbrennbarem Benzin, über den Kanal in die feindlichen Invasionshäfen Dünkirchen, Calais und Boulogne einlaufen. Beim Eintritt in die Häfen sollte die spärliche Besatzung die Tankschiffe verlassen und sie sprengen. Die anschließende Explosion würde das Meer in ein einziges Flammeninferno verwandeln. Das Vorhaben, das unter dem Titel «Operation Lucid» bekannt wurde, führte zu Beginn einen sehr viel unheilvolleren Namen: Operation Luzifer.
Luzifer.
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20
«Warum genau sind wir noch gleich hier, Boss?»
Nelson und Judy erklimmen die Stufen der Kirche St. Barnabas in Broughton Sea’s End. Es ist ein eiskalter Morgen, und die Grabsteine sind von einer dünnen Schicht Raureif überzogen. Die Wettervorhersagen sprechen erneut von Schnee. Ende März! Was für eine Gegend, denkt Nelson und vergisst dabei angelegentlich, dass auch in Blackpool nicht gerade karibisches Klima herrscht. Für ihn führt Norfolk eine Art Vakuum-Existenz, ohne jede Verbindung zum Rest von England. Und wenn man es recht bedenkt, sehen das die meisten Ortsansässigen wohl genauso.
Judy ist stehen geblieben und betrachtet einen gewaltigen immergrünen Baum, dessen Äste fast den gesamten Friedhof überspannen. In seinem Schatten ist die Raureifschicht um einiges dicker.
«Wir sind hier …» Nelson reibt die Hände aneinander. «… weil der Pfarrer noch Ausgaben der Gemeindezeitschrift von anno dazumal hat.»
«Klingt ja superspannend.»
«Superspannend oder nicht, ich will wissen, was im Krieg hier in diesem Dorf vorgefallen ist. Und ich bin mir sicher, die Operation Luzifer ist der Schlüssel zum ganzen Fall.»
«Sie dürfen den Namen nicht laut sagen», zischt Judy.
Nelson lacht. «Sie werden mir aber jetzt auf Ihre alten Tage nicht noch abergläubisch, oder?»
Allerdings hat dieser stille Friedhof tatsächlich etwas Gruseliges an sich. Die Grabsteine, die aus dem Boden ragen, als würde sich darunter etwas regen, der düstere Baum, der seine Äste ausbreitet, die fest verschlossene Kirchentür.
Da löst sich von einem der größeren Grabsteine eine Gestalt. Judy schreit auf.
«Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.» Die Gestalt entpuppt sich als hochgewachsener weißhaariger Mann in Pfarrerskluft. Nelson wirft Judy einen abschätzigen Blick zu.
«Ich bin Father Tom Weston.» Der Mann streckt ihnen die Hand entgegen.
«DCI Nelson.» Nelson drückt eifrig die dargebotene Hand. «Und das ist Detective Sergeant Johnson. Schön, dass Sie Zeit für uns hatten.»
«Aber gerne. Ich freue mich immer, wenn jemand das Archiv einsehen möchte. Das Interesse an der Lokalgeschichte ist einfach zu gering.»
Er zückt einen altertümlichen Schlüssel.
«Schließen Sie die Kirche immer ab?», fragt Judy.
«Mir bleibt nichts anderes übrig. Wir haben hier ein paar sehr wertvolle Kunstgegenstände – Kerzenleuchter, Grabplatten und so weiter –, und ich selbst wohne nicht im Dorf. Ich habe drei Gemeinden zu betreuen.»
In der Kirche
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