Gezeitengrab (German Edition)
ist es fast so kalt wie draußen. Judy pustet in die Hände, um sie ein bisschen zu wärmen, und ihr Atem bläht sich wie eine Weihrauchwolke. Es riecht nach Stein, nach Feuchtigkeit und nach frischen Blumen. Offenbar hat sich jemand um den Blumenschmuck gekümmert, denn auf den Altarstufen steht ein prächtig arrangierter Strauß aus Lilien und Farn. Judy fallen die roten Rosen auf Buster Hastings’ Grab wieder ein. Sie muss später unbedingt nachschauen, ob sie noch da sind.
Als sie durch die Kirche gehen, hallen ihre Schritte von den steinernen Bodenplatten wider. Vor dem Altar knickst Judy unwillkürlich. Nelson mustert sie spöttisch – er kennt den katholischen Kniebeugezwang selbst nur zu gut. Judy verzieht den Mund.
Father Tom führt sie an hölzernen Sitzreihen mit brokatbezogenen Kniebänken vorbei, an einer grellbunten Collage der Arche Noah – offensichtlich das Werk von Sonntagsschulkindern – und schließlich durch eine Tür im hinteren Teil der Kirche. Jetzt sind sie eindeutig im Backstage-Bereich angekommen. Hier stapeln sich Gebetbücher, ein kaputtes Lesepult, Wischmopps, Eimer und einer dieser Staubsauger mit Grinsegesicht. «Das ist Henry», sagt Father Tom. «Ohne Henry könnte ich nicht leben.»
«Halten Sie hier alles alleine sauber?», fragt Nelson.
«Manchmal geht es nicht anders. Gutes Raumpflegepersonal ist schwer zu finden.»
Bald merken sie, dass er so ziemlich alles alleine macht. Er putzt, bohnert, backt Kuchen für das Women’s Institute und leitet sogar die Mutter-Kind-Gruppe. Anscheinend mäht ihm jemand den Rasen auf dem Friedhof, aber das ist es dann auch schon.
«Sind Sie verheiratet?», fragt Nelson. Er hat immer gedacht, anglikanische Pfarrer hätten Ehefrauen, die die Gemeindearbeit für sie erledigen. Ein eindeutiger Vorteil des Protestantismus.
«Verwitwet.» Father Tom öffnet einen Schrank im hinteren Teil des Raumes. «Daphne ist vor fünf Jahren gestorben.»
«Das tut mir leid.»
«Danke. Mit der Zeit wird es leichter. Und immerhin weiß ich, dass sie es jetzt besser hat.»
Manchmal ist so ein Glaube doch ganz praktisch, denkt Nelson, während er sich über die Kisten mit den verstaubten Zeitschriften beugt. Sein eigener diffuser Katholizismus würde sicher keiner echten Prüfung standhalten – wenn beispielsweise Michelle etwas passieren würde oder seinen Töchtern. Er unterdrückt den Drang, sich zu bekreuzigen, um den schrecklichen Gedanken abzuwehren. Noch so ein Reflex, wie Johnsons Knicks vor dem Altar. Wie sauer sie war, weil er das bemerkt hat.
Die Zeitschriften sind gut sortiert, nach Jahrgängen in Kisten gestapelt. Nelson nimmt sich 1940 vor, während Judy sich mit 1939 beschäftigt. Er ist überzeugt, dass die Deutschen in den ersten Kriegsjahren an Land gekommen sein müssen, als die Invasionsangst auf ihrem Höhepunkt war.
«Ich mache Ihnen einen Kaffee», sagt Father Tom. «Wir haben hier hinten einen Gaskocher.»
Nelson beobachtet, wie der Pfarrer den Staub von einem uralten Glas mit löslichem Kaffee pustet. Auch die Milch hat Pulverform. Ruth würde einen Anfall kriegen. Sie trinkt nur piekfeinen Kaffee aus winzigen Tässchen.
Judy hat es sich auf dem Boden bequem gemacht, um die einzelnen Ausgaben des Pfarrbriefs für Broughton und Rockham durchzublättern.
«Hier gibt es ein Rezept für Eichhörnchenpastete.»
«Ein beliebtes Gericht während des Krieges», lässt sich der Pfarrer aus dem Hintergrund vernehmen. «Einige der alten Bauern essen bis heute Eichhörnchenfleisch.»
«Wie lange sind Sie denn schon in der Gemeinde?», fragt Nelson.
«Seit 1952. Dem Jahr vor der großen Flut.» So, wie er das sagt, hört es sich an wie die Sintflut. Vielleicht kann die Sonntagsschule dazu ja auch mal eine Collage machen.
«Flut?», fragt Nelson.
«Ja. Schreckliche Geschichte. Es hat ununterbrochen geregnet, das Meer ist angestiegen, und die Flüsse sind über die Ufer getreten. Wir sind die High Street von Broughton mit Booten entlanggeschippert. Es gab sogar fünf Tote.»
«Ich habe davon gehört», sagt Judy. «Und irgendwann ist das doch beinahe noch mal passiert, nicht?»
«2006», bestätigt Father Tom. «Ich erinnere mich noch gut, wie sie die Sirenen getestet haben. Das hat alles wieder zurückgebracht. Wir haben rund um die Uhr in allen Kirchen Norfolks gebetet. Und die Flut ist ausgeblieben.»
«Ich dachte immer, das war, weil es 2006 so einen heißen Sommer gab», merkt Judy an. Father Tom tut, als hätte er das nicht
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