Gezeitengrab (German Edition)
denke, am Ende werden wir doch siegen.»
Nelson zweifelt keine Sekunde daran, dass Father Tom den Kriegsgräber-Ausschuss besiegen kann. Irgendwie scheint ihm, dass er, wie Gott der Herr, nicht so schnell aufgibt.
Judy fragt nach dem Baum, dessen dunkle Zweige ihr immer noch Unbehagen bereiten.
«Das ist eine Eibe», sagt Father Tom. «Der traditionelle Friedhofsbaum. Diese steht hier schon seit mehreren hundert Jahren, seit dem Mittelalter.»
«Und warum ist sie der traditionelle Friedhofsbaum?» Judy zieht ihren Mantel enger um sich. Die Sonne steht inzwischen höher am Himmel, doch es ist immer noch bitterkalt.
«Sie ist immergrün, ein Hinweis auf die Unsterblichkeit. Und ein alter Volksglaube besagt, dass die Eibe um Mitternacht, was ja, wie Sie wissen, die Geisterstunde ist, den Toten eine Art Kanal bietet, um sich aus ihren Gräbern zu erheben.»
Völliger Schwachsinn, denkt Nelson. Aber den Ausdruck Geisterstunde, den hat er doch erst neulich irgendwo gehört?
«Außerdem ist die Eibe den Druiden heilig», fährt Father Tom fort. «Falls Sie also irgendwelche Druiden kennen …» Er lacht herzlich.
«Wir kennen tatsächlich einen», sagt Nelson.
Schweigend kehren sie zum Parkplatz zurück, jeder mit einem Karton voll Zeitschriften unter dem Arm. Nelson denkt über die Operation Luzifer nach, über das brennende Meer. Nichts in der öden Gemeindezeitschrift weist auf ein so erschreckendes, so erinnerungswürdiges Ereignis hin. Dem Pfarrbrief für Broughton und Rockham zufolge waren die Kriegsjahre ein einziger langer Tanztee mit Kaninchenzüchter-Präsentationen ( Famoses aus Fell und Fleisch: Mit Kaninchenpastete gegen die Nazis! ). Doch irgendetwas ist in diesem verschlafenen Dorf geschehen, und Archies letztes Wort war «Luzifer». Er muss sich unbedingt mit Hugh Anselms Unterlagen befassen.
Judy ihrerseits denkt völlig grundlos an Eiben und an Cathbad.
Sie sind mit Judys Wagen gekommen, weil Nelsons Mercedes bei der Inspektion ist. Zur anhaltenden Erheiterung aller fährt Judy einen Geländewagen, einen protzigen Jeep mit Rädern wie ein Traktor. Nelson klettert auf den Beifahrersitz und merkt an: «Dieser Wagen ist einfach zu groß für Sie.»
«Ich komme gut damit klar.»
«Und was fährt Darren?»
«Einen Ford Ka.»
Nelson grunzt nur kurz, als hätte das seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Sie fahren die Küstenstraße entlang, und Nelson gibt sich Mühe, Judy nicht darauf hinzuweisen, wann sie den Gang wechseln soll – in Wahrheit fährt sie nämlich sehr viel besser als er.
«Johnson!»
«Was denn?» Judy steigt auf die Bremse.
«Fahren wir doch nach Sheringham. Dann können wir uns diesen komischen Horchposten anschauen.»
«Und wozu?»
«Keine Ahnung. Ich würde ihn einfach gerne sehen.»
Während Judy den Wagen wendet, denkt sie sich, dass der Boss sich langsam etwas zu sehr an dieser Kriegsgeschichte aufhängt. Es stimmt schon, wer immer Archie Whitcliffe und Hugh Anselm umgebracht hat – ganz zu schweigen von Dieter Eckhart –, wusste vermutlich auch von der Operation Luzifer, aber nach Judys bescheidener Meinung dürfte die Wahrheit doch eher im näheren Umfeld und in der Gegenwart zu finden sein. Nicht so kompliziert denken: Das sagt Nelson doch sonst auch immer.
Es ist ein ziemlich langer Weg bis zum Beeston Bump. Und ein wunderschöner noch dazu, wenn man für so was einen Sinn hat, der Nelson völlig abgeht. Judy hat sichtlich Spaß daran, durch das kurze duftende Gras zu stapfen, den blauen Himmel über und das rauschende Meer tief unter sich. Trotzdem ist es weit und steil, und als sie oben ankommen, sind sie beide außer Atem. Der Blick ist atemberaubend, wie Father Tom gesagt hat. Hinter ihnen breiten sich die Ebenen von Norfolk aus, sie können sogar den Kirchturm von Broughton sehen und Sea’s End House am äußersten Rand der Landzunge. Und vor ihnen liegt das ruhige, klare Meer.
Vom Horchposten selbst ist nur noch ein achteckiges Betonfundament übrig. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier einmal ein exponiertes Gebäude stand. Stella Hastings hat von einem Turm gesprochen. Nelson schaut auf das Meer hinaus, das unschuldig in der Sonne glitzert. Vor siebzig Jahren muss hier ganz schön was los gewesen sein: deutsche Torpedoboote, Tankschiffe, randvoll mit Benzin und zum Zünden bereit, Captain Hastings und seine Mannen in ihrem kleinen Patrouillenboot. Und natürlich die sechs Deutschen, die in Broughton Sea’s End sterben mussten. Was ist
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