Gezeitengrab (German Edition)
Saab. Der Boss hat Judy um Hilfe gebeten, und er wird ihr ewig dankbar sein, wenn sie … aber was genau soll sie eigentlich tun? Die Begeisterung darüber, die Heldin der Stunde zu sein, hat sie bis zu einem gewissen Grad vergessen lassen, dass sie eigentlich gar nicht weiß, worin die Krise genau besteht. Warum muss sie so dringend über die vereisten Straßen zu Ruths Haus fahren und sich notfalls gewaltsam Einlass verschaffen? Ist Ruths Kind in Gefahr? Aber da ist doch noch die Babysitterin? «Die junge Frau heißt Clara», hat Nelson nur knapp gesagt. «Falls sie irgendwelchen Ärger macht, verhaften Sie sie.» – «Was?» – «Tun Sie’s einfach, Judy. Bitte.»
Bitte. Er hat tatsächlich bitte gesagt. Und er hat sie Judy genannt. Normalerweise sagt er «Johnson» oder benutzt gar keine Anrede. Ein Verdacht, der Judy seit der Namensweihe im Kopf herumspukt, meldet sich jetzt wieder zu Wort. Warum interessiert sich Nelson eigentlich so für Ruths Kind? Clough hat ihr von der Szene in Broughton erzählt, als der Boss mit dem Baby im Arm eingeschlafen ist. Was, wenn … aber nein, das kann nicht sein.
Die New Road ist ein Albtraum. Ein falsches Schlingern, das weiß Judy, und sie würde im tiefen Straßengraben landen und wahrscheinlich nie wieder gefunden werden. Sie umklammert das Lenkrad fester. Sie ist eine gute Fahrerin – zu ihrer großen Genugtuung war sie beim letzten polizeiinternen Fahrtraining sogar besser als Clough –, aber das hier ist doch noch mal etwas anderes. Sie kriecht im Schritttempo voran, hört, wie der Schnee unter den Reifen knirscht. Ein kurzer unkonzentrierter Moment, mehr braucht es gar nicht.
Im ersten Moment glaubt sie an eine Halluzination. Da stapft eine dunkle, kapuzenbewehrte Gestalt am Straßenrand entlang. Wer in aller Welt läuft denn im knöchelhohen Schnee über die New Road? Judy spürt, wie Panik von ihr Besitz ergreift. Alle möglichen Bilder schießen ihr durch den Kopf: geheimnisvolle Gestalten, die nichtsahnenden Reisenden erscheinen, Opfer von Autounfällen, die mit entstellten Zügen plötzlich grinsend auf der Rückbank sitzen, der dritte Mann, der Vermummte, Jesus auf dem Weg nach Emmaus. Ihr eigener Atem klingt ihr laut und abgehackt in den Ohren, sein Lärm füllt den ganzen Wagen. Vorsichtshalber schaut sie in den Rückspiegel. Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich. Doch die keuchenden Atemzüge halten an.
Jetzt ist sie fast auf einer Höhe mit der Gestalt. Was, wenn die Erscheinung sich nun einfach im Schnee auflöst? Was, wenn sie sich umdreht und eine Axt schwingt?
Da dreht die Gestalt sich tatsächlich um und zieht sich die Kapuze aus dem Gesicht. Es ist Cathbad.
«Ich liebe sie so sehr. Ich hätte nie gedacht, dass man ein Baby so sehr lieben kann.»
«Ich weiß.» Nelson streicht ihr übers Haar.
«Was soll werden, wenn ihr etwas passiert?»
«Ihr passiert nichts.»
«Woher weißt du das?»
Nelson schweigt. Durch den dünnen T-Shirt-Stoff hindurch fühlt sie sein Herz schlagen. Sie fröstelt.
«Du frierst ja. Leg dich unter die Decke.»
«Geh nicht weg», sagt Ruth.
«Mach ich nicht.»
«Cathbad!» Judy lässt das Fahrerfenster herunter, was wegen der Schneeschicht davor nicht ganz einfach ist. «Was machst du denn hier?»
«Nicht den Motor abstellen», sagt Cathbad. Mit einer einzigen geschickten Bewegung öffnet er die Beifahrertür und springt leichtfüßig in den schweren Wagen.
«Willst du zu Ruth?» Judy schließt das Fenster wieder und fährt im Schritttempo weiter.
«Wohin denn sonst?» Cathbad zittert, obwohl er unter seinem Umhang einen dicken Anorak und eine Armeehose trägt.
«Sie ist aber nicht da.»
«Ich weiß.»
«Wieso willst du dann hin?»
Gelassen fährt Cathbad den Sitz so weit zurück, dass er die Beine ausstrecken kann. «Ich weiß auch nicht. Es war so eine Ahnung. Ich habe vorhin angerufen und hatte kein gutes Gefühl bei der jungen Frau, die ans Telefon gegangen ist.»
«Kein gutes Gefühl? Großer Gott, Cathbad!»
«Und was machst du hier?»
«Nelson hatte auch kein gutes Gefühl bei ihr.»
«Aha», meint Cathbad zufrieden. «Dann fängt Nelson also an, seiner Intuition zu trauen. Das ist gut.»
«Ach ja?»
«Zumindest für ihn. Vorsicht!» Der Wagen schlingert ein wenig.
«Hier ist es ja spiegelglatt.»
«Es wird immer kälter.»
Um das zu erkennen, braucht man keine hellseherischen Fähigkeiten. Die Temperaturanzeige an Judys Armaturenbrett zeigt minus fünf Grad, und die Scheibenwischer
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