Gezeitengrab (German Edition)
– den Fund der Eisenzeitleiche im Salzmoor, der sie überhaupt erst zusammengeführt hat –, und genießt es, nach dem Essen im Salon neben ihm auf dem Sofa zu sitzen und Brandy zu trinken.
Irene zieht sich zurück. «Sie schläft unten, das ist inzwischen bequemer für sie.» Nachdem Stella noch einmal nach ihrer Schwiegermutter gesehen hat, kommt sie mit Kaffee in kleinen goldenen Tässchen, Schokolade und verschiedenen Zuckersorten in den Salon zurück.
«Meine Güte», ruft Ruth, die ziemlich viel getrunken hat. «Ist das bei Ihnen jeden Abend so?»
Sie merkt, wie Nelson in seinen Brandy grinst.
«Wir bemühen uns, mindestens einmal pro Woche das Esszimmer zu benutzen», sagt Hastings. «Ein paar alte Traditionen sollte man schon aufrechterhalten, das wäre sonst doch schade.»
«Aber meistens sitzen wir doch am Küchentisch», sagt Stella. «Jack liest Zeitung, und ich höre Radio. Deswegen ist es ja so schön, Gäste zu haben.»
«Machen Sie denn oft Abendeinladungen?», fragt Nelson. Man hört ihm an, dass er dieses Wort selten verwendet.
«Eigentlich nicht.» Stellas Augen funkeln spitzbübisch, während sie den Kaffee herumreicht. «Wissen Sie, Jack hat sich mit den allermeisten Nachbarn überworfen.»
«Ach, Stella! Das stimmt doch gar nicht.»
«Ich kann unsere Nachbarn auch nicht leiden», sagt Nelson. «Aber meine Frau lädt sie trotzdem ständig ein.»
Es ist das erste Mal, dass er Michelle erwähnt. Immerhin hat er ihren Namen nicht gesagt.
«Sie sollten aber doch Herr im eigenen Haus sein, mein Lieber», meint Hastings.
«Leichter gesagt als getan», erwidert Nelson. «Ich bin schwer unterlegen, ich habe nämlich zwei Töchter.» Er sieht kurz zu Ruth und dann wieder weg. «Die verbünden sich gegen mich.»
«Clara hat Jack auch immer um den Finger gewickelt», sagt Stella. «Das haben Sie alles noch vor sich, Ruth.»
Ruth lächelt gezwungen.
«Mir macht es nichts aus, in der Minderheit zu sein», sagt Nelson. «Ich bin jetzt schon seit mehr als fünfzehn Jahren immer der Letzte im Bad. Aber irgendwie ist es doch schwer, wenn sie erwachsen werden.»
Stella nickt, und ein warmer Blick tritt in ihre blauen Augen. «Da haben Sie ja so recht, Harry. Als Alastair ausgezogen ist, war ich am Boden zerstört, das weiß ich noch. Ständig bin ich in sein Zimmer gegangen und habe geweint. Mit Giles und Clara war es nicht anders. Darum freut es mich ja so, dass Clara jetzt wenigstens eine Zeitlang wieder bei uns ist.»
«Bald wird sie aber wieder weg sein», meint Hastings. «Sie denkt jetzt ernsthaft darüber nach, sich als Sprachlehrerin für Englisch ausbilden zu lassen.»
«Sie sind bestimmt sehr stolz auf sie», sagt Ruth, weil sie findet, dass sie langsam auch mal wieder etwas sagen sollte.
«Allerdings», erwidert Stella. «Sie hat es nicht immer leicht gehabt. Ihre Schulzeit war sehr schwierig. Ich war so froh, dass sie dann doch noch studieren konnte und einen guten Abschluss gemacht hat. Ich hoffe nur, diese Sache jetzt …» Sie bricht ab. Das Holz knistert im Kamin. Draußen im Gang schlägt eine Uhr.
«Mitternacht», sagt Nelson. «Ich sollte langsam ins Bett.»
«Ich auch.» Ruth wird rot, und Nelson grinst sie an.
«Lassen Sie sich von uns nicht stören, haha.» Jack Hastings muss die Anzüglichkeit natürlich noch ein bisschen breiter treten.
«Also wirklich, Jack», tadelt Stella sanft. «Kommen Sie, Ruth, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Es ist oben im Turm. Sie schlafen eins drüber, Harry. Ihr Zimmer hat ein eigenes Bad, da können Sie sich mal richtig austoben nach den vielen Jahren als Letzter.»
Claras Zimmer ist gemütlich und unordentlich. Weil es ein Turmzimmer ist, hat es keine einzige gerade Wand, und man kann nichts richtig hinstellen. Das Bett ragt in den Raum hinein, Schränke und Bücherregale lehnen etwas prekär an den abgerundeten Wänden. Offensichtlich war es auch schon Claras Kinderzimmer: Aus einer Ecke grinst ein Schaukelpferd herüber, auf der Fensterbank sitzt ein Rudel Teddybären. Und ebenso offensichtlich wurde es vor nicht allzu langer Zeit renoviert: eine neue Tapete mit zartem floralen Muster, Vorhänge, die mit Schleifen zusammengehalten werden. Ruth tritt ans Fenster und sieht hinaus. Tief unter ihr liegt das Meer. Der Schnee auf dem Strand passt überhaupt nicht, es sieht aus wie ein Negativ, schwarze Wellen, die an eine weiße Küste schwappen. In der Ferne sieht sie ein Licht aufblitzen. Wahrscheinlich kommt es von der Küstenstraße,
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