Gezeitengrab (German Edition)
eine schmale Gestalt im langen weißen Gewand.
«Lieber Himmel, Ruth!» Das kommt von Nelson.
Ruth schnappt nach Luft, dann wird ihr langsam klar, dass die gespenstische Gestalt Irene ist und das lange weiße Gewand ein Frottee-Bademantel. Sie fasst die alte Dame am Arm.
«Irene! Warum ist Clara von der Schule geflogen?»
Hinter ihr versucht Nelson, sie zurückzuhalten, doch Irene scheint sich nicht weiter über die Frage zu wundern. Sie blinzelt nur ein paarmal gelassen.
«Das war ein ganz unsinniger Wirbel. Ich bin überzeugt, das andere Mädchen trug genauso viel Schuld daran wie Clara.»
«Aber was hat sie denn getan?»
«Es hieß, sie hätte jemanden … verletzt.»
«Verletzt? Inwiefern?»
«Auf sie eingestochen. Mit einer Schere.»
Ruth stöhnt verzweifelt auf und zieht Nelson hinter sich her in ihr Zimmer. Irene tapst unbeeindruckt zurück nach unten.
«Was soll denn das alles?», fragt Nelson.
«Hast du nicht gehört? Clara hat auf eine Mitschülerin eingestochen. Sie ist von der Schule geflogen.»
«Das ist doch Jahre her.»
«Und die hier habe ich in ihrer Nachttischschublade gefunden.»
Nelson nimmt die Schneiderschere und dreht sie in der Hand.
«Nelson!» Ruth kreischt beinahe. «Sie passt gerade auf unser Baby auf!»
Nelson sieht sie an, und blankes Entsetzen malt sich in seinem Blick. «Wir müssen zu ihr», sagt er.
«Das geht nicht. Die Küstenstraße ist doch blockiert.»
«Dann einer von meinen Leuten. Ich hole mein Handy.»
Er läuft zurück nach oben. Ruth denkt sich, dass sie etwas überziehen sollte, doch ehe sie sich auch nur rühren kann, ist Nelson schon wieder da.
«Ich rufe Judy an. Sie wohnt am nächsten bei dir.»
«Aber wie soll sie denn hinkommen?», jammert Ruth.
«Sie hat einen Jeep. Wir ziehen sie immer damit auf.»
Es dauert quälend lange, bis Judy endlich ans Telefon geht. Ruth hört, wie Nelson seine Anweisungen bellt, während er im Zimmer auf und ab geht.
«… bei Ruth … ja … so schnell wie möglich, und wenn nötig, verschaffen Sie sich gewaltsam Zutritt … Sie können auch Verstärkung anfordern, aber ich weiß nicht, ob ein Streifenwagen überhaupt durchkommt … Okay … Rufen Sie mich an.»
«Glaubt sie, sie schafft es?», fragt Ruth. Sie hat beide Arme fest um den Körper geschlungen, um nicht so sehr zu zittern.
«Ja. Die Straßen sind zwar ziemlich übel, aber ihre Karre ist stabil. Sie meinte, sie würde etwa eine Stunde brauchen.»
«Eine Stunde!»
«Der Schnee ist stellenweise ganz schön tief.»
«O Nelson!» Ruth sinkt aufs Bett. «Glaubst du, es geht ihr gut? Kate?»
Nelson setzt sich neben sie. «Ganz bestimmt.» Aber auch seine Stimme zittert.
«Was soll ich nur tun, wenn ihr etwas passiert?»
«Ihr passiert nichts. Es wird alles gut.»
Ruth fängt an zu weinen, und nach kurzem Zögern nimmt Nelson sie in die Arme.
Fast hätte Judy die Abzweigung zur New Road verpasst. Im Schnee sieht alles so fremd und unvertraut aus. Sie stellt fest, dass sie weit vorgebeugt fährt, wie eine alte Frau in einem Morris Minor. Die Scheinwerfer malen nur schmutzig gelbe Kreise in die Dunkelheit; sie hat schon zweimal nachgesehen, ob sie überhaupt funktionieren. Es hat zwar aufgehört zu schneien, doch jetzt gefriert der Boden. Als Judy um die Kurve fährt, spürt sie, wie rutschig der Untergrund ist. Wenn sie tödlich verunglückt, ist Nelson schuld.
Doch die schweren traktorartigen Räder ihres Wagens meistern auch diese Herausforderung. Judy verspürt eine Welle der Genugtuung. Alle haben sie sie ausgelacht, als sie sich den Wagen gekauft hat. «Fährst wohl viel querfeldein, was?», hat Clough gewitzelt. Er ist in letzter Zeit noch sehr viel nerviger als sonst, nennt sie nur noch die «Superbraut» und behauptet, die Hochzeitsvorbereitungen würden sie von der Arbeit ablenken. Idiot. Hätte sie ihn bloß nicht eingeladen. Außerdem liegt er gewaltig falsch. Sie stürzt sich umso mehr in die Arbeit, um sich von dem Albtraum abzulenken, ein weißes Kleid anziehen und vor Hunderten sensationslüsterner Augen das Jawort sprechen zu müssen. Wieso hat sie nicht einfach auf dem Standesamt beharrt? Oder auf der Karibik. Die Karibik wäre toll gewesen.
Aber wie auch immer, heute Nacht hat sie Clough jedenfalls ausgestochen. Der Boss hat sie angerufen und nicht ihn. Ihr ist schon klar, dass es am Auto liegt, aber das beweist doch, wie recht sie damit hatte, sich einen Jeep anzuschaffen. Clough schaut in die Röhre mit seinem schicken
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