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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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doch trotzdem erinnert es Ruth an den Leuchtturm und an die Zeit, als sein Licht noch erstrahlte und die Seeleute vor den schroffen Felsen warnte. Am Fuß des Turmes sieht man einen schmalen Streifen Schnee, bevor es steil in die Tiefe geht. Garten und Laube sind für immer verschwunden. Ruth stellt sich die Nacht vor, als die Deutschen hier an Land gekommen sind: die Schüsse in der Dunkelheit, den kleinen Jungen, der zum Fenster hinaussah. Vielleicht aus genau diesem Fenster? Sie fröstelt.
    Sie wäscht sich im Bad, einer kleinen Nische, die vom Zimmer abgeteilt wurde. Stella hat ihr ein Nachthemd geliehen, doch das ist gerüscht und bodenlang, und Ruth will es nicht anziehen. «Wieso nicht?», fragt sie sich streng. «Wer sieht dich denn darin?» Stattdessen behält sie T-Shirt und Unterhose an und ertappt sich dann entsetzt dabei, wie sie sich ein wenig von Claras Parfüm aufsprüht. Sie weiß selbst nicht, was sie sich dabei denkt. Nelson und sie haben sich draußen im Flur kurz gute Nacht gesagt. Vor morgen früh sieht sie ihn nicht wieder. Sie legt das Handy auf den Nachttisch und wünscht sich, sie könnte noch einmal zu Hause anrufen. Aber Clara schläft sicher längst. Seltsame Vorstellung, dass sie jetzt in Ruths Bett liegt – auch wenn sie mehrfach versichert hat, das Sofa wäre auch sehr gemütlich – und Ruth in ihrem. Als Ruth das letzte Mal angerufen hat, war Tatjana noch nicht zurück. Anscheinend hat sie wirklich beschlossen, über Nacht in Norwich zu bleiben.
    Ruth seufzt. Sie fühlt sich noch rastloser als vorher, ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Wie soll sie bloß einschlafen? Sie holt sich ein Glas Wasser aus dem Bad. Wahrscheinlich hat sie einfach nur zu viel getrunken. Doch die kleinen, langsamen Schlucke helfen auch nicht. Sie geht zum Bücherregal. Sie wird einfach etwas lesen, bis sie einschläft. Claras Lesegeschmack ist mehr als bunt gemischt: juristische Fachbücher, Dickens, Jilly Cooper, Agatha Christie. Ruth muss an Archie und seine Krimis denken. Wie ist er bloß auf diesen ausgeklügelten Code gekommen? Und warum hat er die Bücher ausgerechnet Maria überlassen, die nach Nelsons Aussage nicht mal besonders gut Englisch spricht? Vielleicht wollte er damit ja sicherstellen, dass der Film doch nicht gefunden wird, und gleichzeitig das Versprechen halten, das er Hugh gegeben hat, und das Andenken seiner Kameraden ehren. Und wer, fragt Ruth sich plötzlich, war die dritte Person, die von dem Geheimnis wusste? Hugh erwähnt sie im Film. Aber wahrscheinlich lebt auch sie längst nicht mehr.
    Ruth entscheidet sich für Reiter von Jilly Cooper – schließlich hat sie eine Schwäche für Pferdebücher. Doch als sie es aus dem Regal zieht, fällt ein kleines, ledergebundenes Buch mit heraus, das obenauf lag. Ein Tagebuch.
    Sie weiß, sie sollte nicht hineinschauen. Das weiß sie genau. Sie hat kein Recht, Claras privates Tagebuch zu lesen. Eine schlimmere Verletzung der Privatsphäre kann man sich gar nicht ausmalen. Sie muss das Büchlein einfach wieder ins Regal zurücklegen.
    Ruth schlägt das Tagebuch auf.
    Ich hasse seine Frau , liest sie. Am liebsten würde ich ihn umbringen, weil er mich so betrügt.
    Ruth liest nicht weiter. Mit dem Buch in der Hand geht sie zurück zum Fenster. Es hat aufgehört zu schneien. Sea’s End House liegt wie unter einem Mantel des Schweigens – alles ist gedämpft, verhüllt, geheimnisvoll. Die Straßen sind gefährlich. Ruth ist kilometerweit von zu Hause entfernt. Und Clara passt auf ihr Baby auf. Plötzlich hat sie Claras Stimme wieder im Ohr, am Abend der Namensweihe. Ich bin von zwei Schulen geflogen.
    Warum ist sie von den Schulen geflogen?
    Jetzt hört sie Stella: Sie hat es nicht immer leicht gehabt. Ihre Schulzeit war sehr schwierig .
    Warum war die Schulzeit denn so schwierig?
    Ohne weiter nachzudenken, geht Ruth zum Nachttisch und schaut in die Schubladen. In der dritten findet sie, was sie sucht.
    Eine große Schneiderschere.

[zur Inhaltsübersicht]
    23
    «Nelson!»
    Es ist dunkel im Flur. Eine Wendeltreppe führt zu Nelsons Zimmer hinauf, doch seine Tür ist geschlossen. Ruth läuft die Treppe hoch, aber er öffnet schon, bevor sie ganz oben ist.
    «Ruth! Was ist denn?»
    Er kommt die Treppe hinunter. Obwohl sie völlig außer sich ist, registriert Ruth, dass er nur T-Shirt und Boxershorts trägt.
    «Nelson!» Sie packt ihn am Arm. «Ich muss sofort mit dir reden.»
    Als sie sich wieder umdreht, schreit sie auf. Vor ihr steht

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