Gezeitengrab (German Edition)
kratzen bereits über eine Eisschicht. Judy sieht nur noch wenige Meter weit.
«Was für ein Irrsinn, bei dem Wetter zu Fuß zu gehen», sagt sie.
«Dem Irrsinn eignet sicherlich ein Glück», erwidert Cathbad, «das nur der Irre kennt.»
Eine typische Cathbad-Antwort. Judy beschließt, nicht weiter darauf einzugehen, sie braucht ihre ganze Konzentration fürs Fahren. Cathbad seinerseits wirkt völlig entspannt und summt leise vor sich hin. Vergangenes Jahr hat er eine Verfolgungsjagd mit dem Boss absolviert: Wenn man das überstanden hat, kann einen wohl so schnell nichts mehr erschüttern. Und Judy ist trotz allem froh, Gesellschaft zu haben. Das Salzmoor, kahl und karg in der Dunkelheit, ist ein unheimlicher Ort. Die Gegenwart eines anderen Menschen wirkt da ungeheuer beruhigend, selbst wenn dieser Mensch zu nervigen, kryptischen Äußerungen neigt.
Wie aus dem Nichts taucht Ruths Häuschen vor ihnen auf. Gerade sind sie noch durch eintöniges weißes Niemandsland geschlichen, und gleich darauf stehen sie vor dem blauen Gartentor und sehen die drei Häuser, deren Dächer Schneemützen tragen. Als sie den Wagen abstellen, springt der Bewegungsmelder an. Sonst ist alles dunkel. Es ist zwei Uhr morgens.
«Die Häuser rechts und links stehen leer», meint Cathbad.
«Ich weiß.» Judy stellt den Motor ab. «Mich würden ja keine zehn Pferde dazu bringen, hier zu wohnen.»
Draußen ist es so kalt, dass Judy glaubt, ihr müsse vor Schreck das Herz stehen bleiben. Cathbad hingegen wirkt geradezu erfrischt. Er springt aus dem Wagen und geht zur Haustür. Der Wind ist hier stärker, und die Schneeverwehungen mit ihren eigentümlichen Formen reichen fast bis zu den Fenstern hinauf.
«Soll ich klopfen? Die Klingel funktioniert nicht.»
«Cathbad?» Judy verachtet sich selbst dafür, aber plötzlich hat sie Angst. So viel Angst, dass sie kaum einen weiteren Schritt machen kann. «Was ist, wenn …» Sie bricht ab.
Cathbad nimmt ihre beiden Hände. Trotz der Kälte sind seine Hände warm. «Judy», sagt er zu ihr. «Du bist stark. Du bist ein wunderbarer, starker Mensch.»
Und seltsamerweise fühlt sie sich auch stark. So stark, dass sie sich von Cathbad losmacht und energisch an die Tür hämmert. «Aufmachen!»
Das Klopfen hallt im ganzen Haus wider. Dann ist es still. Judy und Cathbad wechseln einen Blick.
«Wir müssen die Tür aufbrechen», sagt Judy. «Ich habe eine Brechstange im Wagen.»
Doch Cathbad hebt die Hand. «Warte.»
Da öffnet sich ganz langsam die Tür. Die Kette ist vorgelegt, und eine eingeschüchterte Stimme fragt: «Wer ist da?»
«Polizei.» Mit zitternden Händen schiebt Judy ihren Ausweis durch den Türspalt.
Drinnen rasselt die Kette, dann steht eine blonde Frau vor ihnen, die sehr jung und sehr verängstigt aussieht und sich eine Decke um die Schultern geschlungen hat.
«Ich bin Sergeant Judy Johnson. DCI Nelson schickt mich.»
«Wir kennen uns doch, oder?», fragt Clara. «Sie waren neulich auch auf dem Fest.»
«Wo ist das Baby?»
«Oben.»
Judy eilt die schmale Treppe hinauf. Sie hat jetzt keine Angst mehr, dafür schießt ihr das Adrenalin durch den Körper. Was immer sie vorfinden wird – und auf der Fahrt hat sie sich bereits jede noch so schreckliche Variante vorgestellt –, sie wird damit fertigwerden. Sie reißt die Tür zu Ruths Schlafzimmer auf und sieht die Umrisse des Babybetts neben dem großen. Rasch schaltet sie das Deckenlicht ein und durchquert mit großen Schritten das Zimmer. Kate liegt auf der Seite, bis zum Kinn unter einer rosa Decke. Sie atmet gleichmäßig. Judy streift die Handschuhe ab und streicht dem Baby über die Wange. Sie ist warm. Kate wimmert kurz.
«Was ist denn los?» Hinter ihr ist Clara ins Zimmer gekommen. Sie klingt immer noch verängstigt.
«Sie sind nicht ans Telefon gegangen. DCI Nelson hat sich Sorgen gemacht.» Judy wählt bereits seine Nummer.
«Ich habe geschlafen.»
«Boss? … Ja, es geht ihr gut, ich bin gerade hier bei ihr … Natürlich bin ich mir sicher … Ja, sag ich ihr … In Ordnung.»
Clara sieht sie fast ehrfürchtig an. «Wie sind Sie denn hierhergekommen?»
«Ich habe einen Jeep.»
«Und warum haben Sie den Druiden dabei?»
«Das erkläre ich Ihnen später. Am besten machen wir uns jetzt erst mal einem Tee.»
Doch als sie nach unten kommen, hat der Druide bereits Tee gemacht. Auf dem Sofa liegt Bettzeug, deshalb setzen sie sich an den Tisch vor dem Fenster. Es hat etwas merkwürdig Intimes, so zu
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