Gezinkt
ging sie ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster auf das Auto, das bewegungslos in ihrer Einfahrt stand. Die Scheinwerfer brannten noch, die Scheibenwischer gingen hin und her. Ihre Tochter zögerte auszusteigen, und Liz nahm an, es war nicht das Wetter, das sie im Wagen bleiben ließ.
Nach einem endlos langen Augenblick gingen die Scheinwerfer aus.
Denk positiv, sagte sich Liz. Vielleicht hatte sich ihre Tochter geändert. Vielleicht ging es bei ihrem Besuch darum, dass sie die Hand ausstrecken und Wiedergutmachung für all den Verrat über die Jahre leisten wollte. Dann konnten sie endlich beginnen, an einer normalen Beziehung zu arbeiten.
Dennoch ging ihr Blick zurück zum Nähzimmer, wo die Pistole auf der Kommode lag, und sie sagte sich: Nimm sie. Steck sie in deine Tasche.
Dann: Nein, leg sie zurück in den Schrank.
Liz tat keins von beidem. Sie ließ die Waffe auf der Kommode liegen, dann ging sie zur Haustür und öffnete sie. Kalter Sprühnebel bedeckte ihr Gesicht.
Sie wich zurück, als sich die Silhouette der schlanken, jungen Frau näherte. Beth Anne ging durch die Tür und blieb stehen. Nach kurzem Zögern schloss sie die Tür hinter sich.
Liz blieb in der Mitte des Wohnzimmers und presste nervös die Hände zusammen.
Beth Anne schlug die Kapuze ihrer Windjacke zurück und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Das Gesicht der jungen Frau war wettergegerbt, rötlich. Sie trug kein Make-up. Sie war achtundzwanzig, wie Liz einfiel, aber sie sah älter aus. Das Haar trug sie nun kurz, es ließ winzige Ohrringe sehen. Aus irgendeinem Grund fragte sich Liz, ob jemand sie dem Mädchen geschenkt oder ob es sie selbst gekauft hatte.
»Hallo, Kleines.«
»Mutter.«
Ein Zögern, dann ein kurzes, humorloses Lachen von Liz. »Früher hast du mich Mom genannt.«
»Ja?«
»Ja. Erinnerst du dich nicht mehr?«
Ein Kopfschütteln. Liz glaubte aber, dass sie sich sehr wohl erinnerte und es nur nicht zugeben wollte. Sie musterte ihre Tochter sehr sorgfältig.
Beth Anne sah sich in dem kleinen Wohnzimmer um. Ihr Blick fiel auf ein Foto von ihr selbst und ihrem Vater – sie standen auf der Bootsanlegestelle beim Haus der Familie in Michigan.
»Als du angerufen hast, sagtest du, jemand habe dir erzählt, dass ich hier wohne«, erkundigte sich Liz. »Wer war das?«
»Das spielt keine Rolle. Irgendwer einfach. Du wohnst hier seit...« Sie sprach nicht zu Ende.
»... ein paar Jahren. Willst du einen Drink?«
»Nein.«
Liz erinnerte sich, dass sie das Mädchen dabei erwischt hatte, wie es mit sechzehn ein paar Bier stibitzte. Vielleicht hatte Beth Anne weiter getrunken und nun mit einem Alkoholproblem zu kämpfen.
»Dann Tee? Kaffee?«
»Nein.« Kurzes Schweigen.
»Du wusstest, dass ich in den Nordwesten gezogen bin?«, fragte Beth Anne.
»Du hast immer von dieser Gegend gesprochen, dass du weg wolltest von... na ja, dass du aus Michigan raus wolltest. Nachdem du ausgezogen warst, kam dann Post für dich bei mir an. Von jemandem aus Seattle.«
Beth Anne nickte. Hatte sie auch leicht das Gesicht verzogen? Als ärgerte sie sich, weil sie unvorsichtigerweise einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort übersehen hatte? »Und du bist nach Portland gezogen, um in meiner Nähe zu sein?«
Liz lächelte. »Ich denke schon. Ich fing an, nach dir zu suchen, aber dann verließ mich der Mut.« Liz fühlte Tränen in den Augen aufsteigen, während ihre Tochter weiter den Raum inspizierte. Das Haus war klein, sicher, aber Möbel, Elektrogeräte und sonstige Einrichtung waren nur vom Besten – der Lohn für Liz’ harte Arbeit in den letzten Jahren. Zwei Empfindungen stritten in der Seele der Frau: Halb hoffte sie, das Mädchen würde versucht sein, die Verbindung zu seiner Mutter wieder aufzunehmen, wenn es sah, wie viel Geld Liz hatte, aber gleichzeitig schämte sie sich für all den Überfluss. Die Kleidung und der billige Modeschmuck ihrer Tochter ließen vermuten, dass sie mit Mühe über die Runden kam.
Das Schweigen war wie Feuer. Es versengte Liz’ Haut und Herz.
Beth Anne öffnete die geballte linke Hand, und ihre Mutter bemerkte einen winzigen Verlobungsring und einen schlichten, goldenen Ehering. Die Tränen kullerten ihr nun über die Wangen. »Du bist...?«
Die junge Frau folgte dem Blick ihrer Mutter zum Ring. Sie nickte.
Liz fragte sich, was für ein Mann ihr Schwiegersohn war. War er ein sanfter Typ wie Jim, jemand, der den launischen Charakter ihrer Tochter ausgleichen konnte? Oder war er hart
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