Gezinkt
einem Lagerhaus, das Jim geerbt hatte – krankgemeldet, und er brauchte Beth Anne als Aushilfe. »Eher sterbe ich, als dass ich noch mal mit dir in dieses Scheißloch gehe«, hatte sie ihn angefahren.
Ihr Vater hatte sich eingeschüchtert zurückgezogen, aber Liz war auf ihre Tochter losgegangen: »Sprich nicht so mit deinem Vater!«
»Ach?«, hatte das Mädchen in sarkastischem Tonfall gefragt. »Wie soll ich denn mit ihm sprechen? Wie eine gehorsame kleine Tochter, die alles tut, was er verlangt? Das war vielleicht das, was er sich gewünscht hat, aber es ist nicht das, was er bekommt.« Dann hatte sie nach ihrer Handtasche gegriffen und war zur Tür gegangen.
»Wohin willst du?«
»Freunde treffen.«
»Das wirst du nicht. Komm auf der Stelle zurück!«
Zur Antwort schlug sie die Tür zu. Jim wollte ihr nachgehen, aber schon war sie fort und knirschte durch den zwei Monate alten Schnee von Michigan.
Und diese »Freunde« …
Trish und Eric und Sean... Kinder aus Familien mit vollkommen anderen Wertvorstellungen als Liz und Jim. Sie versuchten ihr zu verbieten, sich mit ihnen zu treffen. Aber das nützte natürlich nichts.
»Schreibt mir nicht vor, mit wem ich meine Zeit verbringe«, hatte Beth Anne wütend gesagt. Zu diesem Zeitpunkt war das Mädchen achtzehn gewesen und so groß wie ihre Mutter. Als sie mit finsterem Blick auf sie zutrat, war ihre Mutter ängstlich zurückgewichen. »Und was wisst ihr überhaupt von ihnen?«, hatte das Mädchen gefragt.
»Sie mögen deinen Vater und mich nicht – das ist alles, was ich wissen muss. Was hast du gegen die Kinder von Todd und Joan? Oder die von Brad? Dein Vater und ich kennen sie seit Jahren.«
»Was ich gegen sie habe?«, murmelte das Mädchen. »Wie wär’s damit, dass sie komplette Loser sind?« Diesmal schnappte sie sich Handtasche und Zigaretten, die sie mittlerweile rauchte, und legte einen neuerlichen dramatischen Abgang hin.
Liz trat mit dem rechten Fuß auf das Pedal der Singer, und der Motor ließ sein charakteristisches Mahlgeräusch hören, ehe das klatta, klatta, klatta ertönte, mit dem die Nadel auf und ab sauste, im Stoff verschwand und eine saubere Reihe Stiche um die Tasche herum zurückließ.
Klatta, klatta, klatta …
In der Mittelstufe kam das Mädchen nie vor sieben oder acht nach Hause und in der High School noch viel später. Manchmal blieb es die ganze Nacht fort. Auch an den Wochenenden verschwand es einfach und gab sich nicht mit der Familie ab.
Klatta, klatta, klatta. Das rhythmische Mahlen der Singer beruhigte Liz ein wenig, bewahrte sie aber nicht vor neuer Panik, als sie auf die Uhr sah. Ihre Tochter konnte jede Minute hier sein.
Ihr Mädchen, ihr kleines Baby …
Schlafe mein Kindchen ...
Und die Frage, die Liz seit Jahren quälte, kehrte nun wieder: Was war falsch gelaufen? Stunden um Stunden hatte sie die frühen Jahre der Kleinen durchgespielt und zu verstehen versucht, womit sie sich diese totale Ablehnung seitens Beth Annes verdient hatte. Sie war eine aufmerksame und teilnahmsvolle Mutter gewesen, konsequent und gerecht, hatte täglich für die Familie gekocht, die Kleidung des Mädchens gewaschen und gebügelt, ihm alles gekauft, was es brauchte. Das Einzige, was sie sich denken konnte, war, dass sie zu energisch, zu unnachgiebig in ihrer Erziehungsmethode gewesen war, zu streng manchmal.
Aber das war ja wohl kaum ein Verbrechen. Abgesehen davon war Beth Anne gleichermaßen wütend auf ihren Vater gewesen – den Softie der beiden Eltern. Ausgeglichen und so vernarrt in die Kleine, dass er sie fast schon verzog, war Jim der perfekte Vater gewesen. Er hatte Beth Anne und ihren Freunden bei den Hausaufgaben geholfen, hatte sie selbst in die Schule gefahren, wenn Liz arbeitete, hatte ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen und sie ins Bett gebracht. Er hatte sich »besondere Spiele« für sich und Beth Anne ausgedacht. Es war genau die Art elterliches Band, das die meisten Kinder lieben würden.
Aber das Mädchen bekam auch ihm gegenüber Tobsuchtsanfälle und unternahm alles, um keine Zeit mit ihm verbringen zu müssen.
Nein, Liz fielen keine düsteren Ereignisse aus der Vergangenheit ein, keine traumatischen Erlebnisse oder Tragödien, die Beth Anne hätten abtrünnig werden lassen. Sie gelangte wieder zu dem Schluss, zu dem sie schon vor Jahren gekommen war: Dass ihre Tochter – so ungerecht und grausam es erscheinen mochte – einfach von Geburt an fundamental anders als Liz gewesen war; irgendetwas in
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