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Gezinkt

Gezinkt

Titel: Gezinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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ihrem Schaltplan hatte das Mädchen zu der Rebellin werden lassen, die es war.
    Und während Liz den Stoff unter ihren langen, weichen Fingern glatt strich, überlegte sie noch etwas anderes: Rebellisch, ja, aber stellte sie auch eine Gefahr dar?
    Liz gestand sich nun ein, dass das Unbehagen, das sie heute Abend spürte, nicht nur von der bevorstehenden Begegnung mit ihrem widerspenstigen Kind rührte; die junge Frau machte ihr auch Angst.
    Sie sah von ihrer Jacke auf und starrte in den Regen, der an ihr Fenster klatschte. Ihr rechter Arm kribbelte schmerzhaft, und sie dachte an jenen schrecklichen Tag vor mehreren Jahren zurück – den Tag, der sie für alle Zeit aus Detroit verjagt hatte und der immer noch Albträume auslöste. Liz hatte ein Schmuckgeschäft betreten, wo zu ihrem atemlosen Entsetzen eine Pistole auf sie gerichtet wurde. Sie sah immer noch den gelben Blitz vor sich, als der Mann abdrückte, hörte den ohrenbetäubenden Knall, spürte den dumpfen Schlag, mit dem die Kugel in ihren Arm drang und sie vor Schmerz und Überraschung schreiend auf den Fliesenboden stürzen ließ.
    Natürlich hatte ihre Tochter mit diesem Unglück nichts zu tun gehabt. Doch Liz war klar geworden, dass Beth Anne ebenso bereit und fähig wäre, abzudrücken, wie es jener Mann bei dem Raubüberfall gewesen war; sie hatte den Beweis dafür, dass ihre Tochter eine gefährliche Frau war, ja mit eigenen Augen gesehen. Vor ein paar Jahren, nachdem Beth Anne von zu Hause ausgezogen war, hatte Liz Jims Grab besucht. An dem Tag lag ein Nebel wie Watte über dem Friedhofsgelände, und sie war fast an dem Grabstein angekommen, als sie bemerkte, dass jemand davor stand. Zu ihrem Schreck erkannte sie Beth Anne. Liz wich mit klopfendem Herzen in den Dunst zurück. Sie rang lange mit sich, brachte jedoch letztlich nicht den Mut auf, dem Mädchen entgegenzutreten, und beschloss, eine Nachricht an der Windschutzscheibe ihres Wagens zu hinterlassen.
    Aber als sie an den Chevy trat und in ihrer Handtasche nach Kugelschreiber und Papier kramte, fiel ihr Blick ins Wageninnere, und ihr Herz erbebte bei dem Anblick: eine Jacke, ein Wirrwarr von Papieren und halb darunter versteckt eine Pistole und einige Plastiktütchen, die ein weißes Pulver enthielten – Drogen, wie Liz annahm.
    O ja, dachte sie nun, ihre Tochter, die kleine Beth Anne, war sehr wohl fähig zu töten.
    Liz nahm den Fuß vom Pedal, und die Singer verstummte. Sie öffnete die Klammer und schnitt die herunterhängenden Fäden ab. Dann zog sie die Jacke an und steckte ein paar Dinge in die Taschen, betrachtete sich prüfend im Spiegel und befand, dass sie mit ihrer Arbeit zufrieden war.
    Sie starrte ihr matt beleuchtetes Spiegelbild an. Verschwinde! sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie ist eine Gefahr! Hau ab, bevor Beth Anne eintrifft.
    Aber nach einem Moment des inneren Zwiespalts seufzte Liz. Sie war unter anderem überhaupt nur deshalb hierhergezogen, weil sie erfahren hatte, dass ihre Tochter im Nordwesten eine neue Heimat gefunden hatte. Liz hatte sich immer vorgenommen, das Mädchen zu suchen, hatte jedoch feststellen müssen, dass es ihr seltsam widerstrebte. Nein, sie würde bleiben, sie würde sich mit Beth Anne treffen. Aber sie würde nicht dumm sein, nicht nach dem Raubüberfall. Liz hängte die Jacke nun an einen Kleiderbügel und ging zum Schrank. Sie zog eine Schachtel aus dem obersten Fach und schaute hinein. Da lag eine kleine Pistole. Eine »Damenpistole«, hatte Jim gesagt, als er sie ihr vor Jahren geschenkt hatte. Sie nahm sie heraus und betrachtete sie.
    Schlafe mein Kindchen... Die ganze Nacht.
    Dann schauderte sie angeekelt. Nein, sie konnte unmöglich eine Waffe gegen ihre eigene Tochter einsetzen. Ausgeschlossen.
    Die Vorstellung, das Mädchen in den ewigen Schlaf zu versetzen, war undenkbar.
    Und doch... Was, wenn sie zwischen ihrem Leben und dem ihrer Tochter wählen musste? Wenn der Hass des Mädchens keine Grenzen mehr kannte?
    Konnte sie Beth Anne töten, um ihr eigenes Leben zu retten?
    Keine Mutter sollte je eine solche Wahl treffen müssen.
    Sie zögerte lange und wollte die Pistole gerade zurücklegen, als ein Lichtstrahl sie innehalten ließ. Scheinwerferlicht erfüllte den Hof vor dem Haus und projizierte hellgelbe Katzenaugen auf die Wände des Nähzimmers.
    Die Frau warf noch einen Blick auf die Waffe, und anstatt sie wieder im Schrank zu verstauen, legte sie sie auf eine Kommode neben der Tür und breitete ein Zierdeckchen darüber. Dann

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