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Gezinkt

Gezinkt

Titel: Gezinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Substanzen – Baumwolle vom Feld, Wolle von Tieren – zu nehmen und sie in etwas ganz Neues zu verwandeln. Das Schlimmste an der Verletzung vor ein paar Jahren war die Beschädigung des rechten Arms gewesen, die sie drei unerträgliche Monate lang von der Singer ferngehalten hatte.
    Nähen war aber nicht nur von therapeutischem Wert für Liz, es war mehr. Es gehörte zu ihrem Beruf und hatte dazu beigetragen, dass sie eine wohlhabende Frau war; Gestelle voller Designerkleidung warteten ein Stück entfernt auf ihre geschickten Hände.
    Ihr Blick ging zur Uhr. Fünfzehn Minuten. Erneutes Aufwallen von Panik.
    Sie hatte den Tag vor fünfundzwanzig Jahren so klar vor Augen – Beth Anne, die in ihrem Pyjama an dem wackligen Küchentisch saß und fasziniert die flinken Finger ihrer Mutter beobachtete, während Liz ihr vorsang.
     
    Schlafe mein Kindchen ...
     
    Die Erinnerung rief zahllose andere wach, und die Aufregung stieg in Liz’ Herz wie der Wasserpegel in dem vom Regen angeschwollenen Bach hinter ihrem Haus. So, befahl sie sich nun mit Nachdruck, sitz nicht einfach hier herum... Tu etwas. Arbeite weiter. Sie suchte eine marineblaue Jacke aus ihrem Schrank, ging zum Nähtisch und wühlte in einem Korb, bis sie einen passenden Wollrest gefunden hatte. Aus dem würde sie eine Tasche für das Kleidungsstück fertigen. Liz machte sich ans Werk, strich den Stoff glatt, markierte ihn mit Schneiderkreide, griff zur Schere, schnitt vorsichtig. Sie konzentrierte sich auf ihre Aufgabe, aber es reichte nicht aus, um ihre Gedanken von dem bevorstehenden Besuch abzulenken – und von jahrealten Erinnerungen.
    Die Sache mit dem Ladendiebstahl zum Beispiel. Als das Mädchen zwölf gewesen war.
    Liz erinnerte sich, wie das Telefon geläutet hatte, und als sie sich meldete, hatte der Chefdetektiv eines nahen Kaufhauses zu ihrem und Jims Entsetzen berichtet, dass man Beth Anne mit Schmuck im Wert von fast tausend Dollar, versteckt in einer Papiertüte, erwischt hatte.
    Die Eltern hatten den Mann angefleht, keine Anzeige zu erstatten. Sie hatten gesagt, da müsse ein Irrtum vorliegen.
    »Nun ja«, hatte der Kaufhausdetektiv skeptisch gesagt, »wir haben sie mit fünf Uhren angetroffen. Und einer Halskette dazu. Ich meine, das hört sich für mich nicht nach einem Irrtum an.«
    Nach vielen Versicherungen, es handle sich nur um einen Streich, und sie werde den Laden nie wieder betreten, hatte sich der Mann schließlich bereit erklärt, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.
    Vor dem Laden, als die Familie allein war, hatte sich Liz wütend an Beth Anne gewandt. »Warum um alles in der Welt hast du das getan?«
    »Warum nicht?«, antwortete das Mädchen in seinem Singsang und grinste höhnisch dazu.
    »Es war dumm.«
    »Als wenn mir das nicht egal wäre.«
    »Beth Anne... wieso benimmst du dich so?«
    »Wie denn?«, hatte das Mädchen in gespielter Verwirrung gefragt.
    Ihre Mutter hatte das Gespräch mit ihr gesucht – so wie die Psychologen in den Talkshows immer sagten, dass man es mit Kindern tun solle – aber Beth Anne blieb weiter gelangweilt und zerstreut. Liz hatte eine vage und offenbar fruchtlose Warnung ausgesprochen und die Sache aufgegeben.
    Jetzt dachte sie: Man investiert ein gewisses Maß an Bemühung in das Nähen einer Jacke oder eines Kleids und erhält das erwartete Kleidungsstück. Aber man investiert tausend Mal mehr Mühe in die Erziehung eines Kindes, und das Ergebnis ist das Gegenteil von dem, was man sich erhofft und erträumt hat. Es erschien ihr sehr ungerecht.
    Liz’ scharfe graue Augen prüften die Wolljacke, vergewisserten sich, dass die Tasche flach anlag und in der richtigen Position angeheftet war. Sie hielt inne, blickte auf und schaute aus dem Fenster auf die schwarzen Spitzen der Kiefern, aber was sie in Wirklichkeit sah, waren weitere schwer erträgliche Erinnerungen an Beth Anne. Was für ein Schandmaul die Kleine gewesen war! Sie hatte ihrer Mutter oder ihrem Vater in die Augen gesehen und gesagt: »Das könnt ihr euch aber komplett abschminken, dass ich mit euch komme.« Oder: »Habt ihr überhaupt eine Ahnung von irgendwas ?«
    Vielleicht hätten sie in ihrer Erziehung strenger sein sollen. In Liz’ Familie war man verdroschen worden, wenn man fluchte, Erwachsenen widersprach oder nicht tat, was die Eltern von einem verlangten. Sie und Jim hatten Beth Anne nie geschlagen; vielleicht hätten sie ihr ab und an eine Ohrfeige verpassen sollen.
    Einmal hatte sich jemand im Familienunternehmen –

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