Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
sagt Frau Schnell.) Die Klassenkameraden berichten, dass sie nachmittags öfter mit Rahim chatten und dass sie ihm gesagt hätten, er kriegt schwer Ärger, wenn er wieder in der Schule auftaucht. Sehr hilfreich.
Irgendwann kreuzt dann Rahims großer Bruder in der Schule auf – Rahim hat gestanden und ihm den zweiten Brief gezeigt. Der große Bruder tischt uns ein gewaltiges Märchen von Lungenentzündung mit Beinbruch auf, und er hat auch eine von ihm selbst geschriebene Entschuldigung dabei. Die akzeptieren wir nicht, schließlich ist er nicht erziehungsberechtigt. Als er das nicht einsehen will, gehen wir gemeinsam zur Schulleitung. Herr Fischer, der von sich glaubt, er wäre eine gelungene Kreuzung aus Seelenklempner und Kompaniechef, bearbeitet ihn so lange, bis er die mütterliche Handynummer wählt. «Meine Mutter hat neue Nummer», bemerkt der große Bruder. Das haben wir auch schon gemerkt; es ist somit die vierte Handynummer in zwei Jahren. Festnetz hat kaum noch jemand, leider.
Die Mutter eilt schließlich herbei. Es gibt ein großes Lamento, es heißt, ich sei schuld an allem, Rahim sei so zart besaitet … Zum Glück bin ich’s ja nicht, sonst hätte ich alles, was er mir schon an den Kopf geworfen hat, bestimmt nicht verkraftet.
Wir beraten die Mutter, sagen ihr aber am Ende auch, dass ein solches Schwänzen – ach nein, sorry, das heißt ja heutzutage Schuldistanz – bis zu 2500 Euro Bußgeld kosten kann. Die Mutter erbleicht.
Am nächsten Tag ist Rahim wieder da. Er scheint fast froh zu sein, wieder in die Schule gehen zu können. Ich freue mich ebenfalls. «Endlich», sage ich. «Wir haben dich vermisst, Rahim.»
«Frl. Krise, ich euch auch», sagt er reuig. «Entschuldigung für Fehlen, und meine Mutter hat gesagt, ich soll Sie fragen, ob sie Bußgeld jetzt in Raten bezahlen kann. Ich bringe Ihnen dann morgen 20 Euro mit, erst mal.»
Patrick schwänzt
Das Schwänzen nennt man heute «Schuldistanz» oder «Schulvermeidung». Angeblich hören sich diese Begriffe wertfreier an als das diskriminierende Wort «Schwänzen». Aber wie man es auch dreht und nennt, das Problem ist immer noch das alte.
In meiner ersten Zeit als Klassenlehrerin einer sechsten Klasse hatte ich einen kleinen Patrick, der ziemlich verwahrlost aussah und hier und da unentschuldigt fehlte. Ich sorgte mich um ihn und schrieb seiner Mutter mehrere Briefe. Keine Reaktion! Telefonisch kam ich kaum an die Familie heran, es gab zwar einen Anschluss, der war aber mangels Bezahlung meistens abgestellt.
Eines Morgens, Patrick war wieder nicht zum Unterricht erschienen, erreichte ich endlich seine Mutter. Sie schien trotz der frühen Stunde offensichtlich nicht ganz nüchtern zu sein. Das konnte man selbst am Telefon merken. Dafür hatte sie eine völlig plausible Erklärung für sein Fehlen: «Der Patrick kam gestern Nacht erst um zwölf nach Hause. Da lagen wir schon im Bett, und mein Verlobter hat gesagt: ‹Den lässt du jetzt aber nicht mehr rein. Da merkt er endlich mal, dass er zu spät ist!› Keine Ahnung, wo der jetzt ist …»
Spätestens an diesem Tag habe ich begriffen, dass Kinder mehr gute Gründe haben können, nicht in die Schule zu gehen, als wir glauben.
Hirn und Haar
In Bio geht’s streng nach Lehrplan immer noch um das Nervensystem. Aber nur sehr wenige Fakten haben es bisher geschafft, in den Hirnen meiner Lieben einen synaptischen Spalt zu überwinden. Zu wissen, wie’s funktioniert, scheint auch nicht zu nützen.
Macht nichts, finden meine Mädels, Hauptsache, Frau sieht gut aus, oder? Stimmt doch, vallah! Was drinnen im Schädel los ist, sieht sowieso kein Mensch.
Nesrin, die künftige Friseuse, ist heute strafversetzt, sie muss am Unterricht eines Parallelkurses teilnehmen, um mal einen Tag lang von ihrer Busenfreundin Aynur getrennt zu sein. Zusammen sind die beiden im Moment unerträglich. Entweder zanken sie sich lautstark oder lachen und schreien um die Wette. Diese Maßnahme versetzt Nesrins guter Laune keinen Abbruch, trällernd entschwindet sie im Nachbarkurs Bio.
Allerdings kommt sie nach zwei Stunden aufgebracht, laut schnaufend und schimpfend wieder raus und fällt gleich auf dem Flur über mich her: «Vallah, Frl. Krise! Frau Schneider ist voll gemein, echt. Ich habe gar nichts gemacht, nur am Ende von Unterricht dachte ich, Unterricht ist zu Ende, weil alle liefen so rum, und da habe ich so bisschen Haare von Sara toupiert und mit Haarspray gemacht. Sie will mir Tadel geben,
Weitere Kostenlose Bücher