Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
im Brustton der Überzeugung. «Ich geh Kita, weil sie ist gleich in meiner Straße.»
Stimmt, ich hatte ganz vergessen, dass sich der optimale Praktikumsbetrieb ja möglichst gleich neben dem Bett befindet.
Nesrin will immer noch Friseur. Voll schön ist das, schwärmt sie, sie wird sich eine neue Frisur zulegen, bisschen die Haare färben lassen, Tricoloresträhnchen vielleicht, auf jeden Fall neue Nägel zulegen oder wenigstens eine French Manicure machen lassen, nicht zu vergessen Augenbrauenzupfen, Wimpernfärben sowie ein Make-up für die Hochzeit der Cousine. Ich bremse sie mit der gefühllosen Frage, ob sie wisse, dass sie da arbeiten solle. Verächtlich blickt sie mich von oben bis unten an, und spontan komme ich mir so ungepflegt vor, als hätte ich gerade den Schulgarten umgegraben – meine Nägel, oje, und die Haare erst!
Hoheitsvoll sagt sie: «Sie haben ja keine Ahnung», und segelt davon.
Der verfressene Ömür würde am liebsten in einem Dönerla…
«Nein!», schrei ich. «Bitte nicht!»
«Ist ja schon gut», sagt er feixend. «Schade, gehe ich eben Tischler.»
Ich könnte ihn küssen. Bei der Polizei kann er leider nicht landen, da hätte er sich schon viel früher bewerben müssen. Nicht, dass wir ihm das nicht gesagt hätten.
Um die Suche anzukurbeln, erlauben wir den Schülern, die noch keinen Platz gefunden haben, heute früh von der Schule aus Betriebe anzurufen und dann, bei positiver Rückmeldung, gleich dorthin zu gehen. Tatsächlich trudeln sie fast alle los – und fallen im Laufe des Vormittags stolz und ein Vertragspapier schwingend wieder ein.
Nur Erkan nicht. Der musste nämlich gaaaanz weit weg. Der Betrieb, den er sich ausgesucht hatte, lag am anderen Ende der Stadt. Ich war ein wenig besorgt, als er losging.
Prompt kommt er erst um 15 Uhr angeeiert. Verlaufen hat er sich in der großen Stadt, verfahren auch. Er hat weite Fußmärsche zurückgelegt, war straßauf, straßab gepilgert, hat Menschen nach dem Weg gefragt und keine Auskunft erhalten, geweint hat er, jedenfalls fast, und sich, uns und das Praktikum verflucht. Der Arme! Hunger hat er gehabt und Durst. Wahrscheinlich auch Heimweh. Schließlich hat er seinen Cousin angerufen, und der hat ihm den Weg gewiesen.
Das erzählt er jedenfalls. Na ja. Soll ich das glauben? Und einen Praktikumsplatz kann er auch nicht vorweisen.
«Ich geh morgen, ich schwör, Frl. Krise», verspricht er und sieht mich treuherzig an.
«Bei mein Onkel in meiner Straße, der hat so kleines Restaurant mit Döner und so …»
Im Tal der Qual
Ach, ich frage mich, wie meine lieben Schüler ihr Wochenende verbringen. Was muss man nur tun, um montags in der fünften Stunde in so einer miesen Verfassung zu sein?
Bleich und müde hängen sie vor mir an den Tischen, noch lustloser als sonst. Sie schnallen gar nichts, können sich nicht konzentrieren, sie sind sogar zu erschöpft, um ihr Material aus der Tasche zu nehmen. Erkan liegt mit dem Kopf auf dem Tisch, Hanna kämmt sich matt ihr gülden Haar, Nesrin nuckelt an ihrem Lipgloss, Fuat und Hassan gähnen um die Wette, Necla, Jenny und Leila kichern über irgendeinem Briefchen. Ich versuche dreimal, viermal, fünfmal, sechsmal anzufangen. Immer wieder werde ich nach zwei, drei Worten unterbrochen.
Fuat: «Ist jetzt Deutsch?»
Emre: «Frl. Krise, soll ich Kreide holen?» (Auf dem Pult liegen zwei Stücke.)
Hanna: «Wo ist Gülten?»
Ömür: «Ist nach dieser Stunde endlich Mittagspause?»
Aynur: «Warum sind die Fotos noch nicht da, vallah?»
Ich werde langsam ungehalten, zumal es nicht mit diesen Fragen abgetan ist, denn jetzt müssen erst mal alle ausführlich ihren Senf dazugeben. Das ist so in meiner Klasse, alle müssen immer zu allem was sagen. Alle!
Nach sieben Minuten kommt dann noch Gülten reingeschlichen. («Huch, hat’s schon geklingelt?»)
Freudige Begrüßung, man hat sich ja etwa zehn Minuten nicht gesehen, neues Gequatsche, neue Fragen – und ich kurz vorm Schlaganfall.
Endlich gelingt es mir mit letzter Willenskraft, meinen einleitenden Satz zu Ende zu sprechen und ohne Verzug das Wort «Lyrik» an die Tafel zu schreiben.
«Was das?», fragen sofort mehrere. Ehe ich mich darüber aufregen kann – es ist ja schließlich nicht die erste Lyrik-Einheit, die wir machen –, schreit Emre: «Ich weiß! Ich weiß! Lyrik hat was mit Lügen zu tun!»
Ich kann nur noch schnaufen, in mir brodelt es, und es keimt ein Verdacht: Unterrichte ich etwa menschliche
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