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Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Titel: Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frl. Krise
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Siebe?
    Niemand weiß, was Lyrik sein soll, aber immerhin kann sich Aynur als Einzige schwach daran erinnern, das Wort schon einmal in meinem Unterricht gehört zu haben. Und in dem Stil geht es weiter.
    Wir lesen ein Liebesgedicht. Es enthält sehr viele unbekannte Wörter, das Gedicht ist nämlich aus dem 12. Jahrhundert: «Dû bist mîn, ich bin dîn …»
    Fuat kriegt sich nicht mehr ein, soooo komische Wörter. «Voll pervers! War voll Spast!»
    Nach großem Hin und Her ist das Gedicht endlich übersetzt, und auf einmal sind alle ganz angetan. «Voll schöööööön», sagt Aynur und lächelt versonnen.
    Schnell noch ein Gedicht! Das hat auch viele seltsame Wörter, unter anderem das schwierige Wort «Tal».
    Keiner kennt dieses Wort. Das kann ja wohl nicht sein! Immerhin sind wir im neunten Schuljahr.
    Nein, in echt – Tal? Nie gehört! Was soll das sein?
    Es werden Vermutungen geäußert, die mich blass werden lassen. «Ist so kleines Haus», sagt Hassan, und Gülten rät: «Tal ist was am Tier, oder?»
    Endlich! Ömür rettet die Stunde. «Tal ist … Tal … ist …», stottert er. «Hatten wir doch mal in Erdkunde … Tal ist … ist so Schüssel mit Wald!»
    Lyrischer geht’s doch nicht, oder?

Wer schwänzt, muss zahlen
    Heute ist es merkwürdig leer in meiner Klasse. Eine Grippewelle haben wir nicht und einen Feiertag auch nicht – in keiner Religion, soweit ich weiß. In meinem Fach liegt auch kein einziger Zettel von unserer Sekretärin Frau Schnell à la «Anruf von Mutter von Nesrin, sie ist krank». Aha! Alles klar: Die Herrschaften schwänzen, äh, ich wollte sagen, sie sind heute schulmüde.
    Es ist zwar angenehm, in einer halbleeren Klasse zu unterrichten, trotzdem macht mich das nicht froh. Kein Mensch wird mir glauben, wie viel Arbeit man mit Schülern hat, die nicht in die Schule kommen. Beinahe mehr als mit denen, die da sind.
    Nur mal ein Beispiel: Rahim. Rahim hat Stress. Mit mir. Er stört nämlich mit seiner unkontrollierten Herumschreierei und Pöbelei ständig den Unterricht und wird auch noch richtig pampig und unverschämt, wenn ich ihn anpfeife. Rahim ist ein niedlicher kleiner Kerl, aber er ist verhaltensoriginell (früher nannte man das ja völlig gefühllos verhaltensgestört). Er stammt aus einer Familie mit acht Kindern, und wahrscheinlich war dieses Generve schon immer seine einzige Möglichkeit, etwas Aufmerksamkeit zu erhalten. Nun gut, meine Aufmerksamkeit hat er jetzt. Aber das passt ihm auch nicht, also kommt er nicht mehr in die Schule. Seine Mutter ahnt nichts davon, und wenn doch, verheimlicht sie es vor seinem Vater, der wird nämlich schnell rabiat.
    Von Montag bis Mittwoch fehlt Rahim. Ich denke mir nichts dabei und genieße die Ruhe. Schnell gewöhne ich mich daran, und erst am Donnerstag merke ich: Huch, der fehlt ja immer noch!
    Ich gehe also in der Pause ins Sekretariat und versuche seine Mutter auf ihrem Handy anzurufen (das Telefon im Lehrerzimmer funktioniert nicht bei Mobilnummern, vallah, voll umständlich). Niemand geht dran. In den anderen Pausen versuche ich es immer wieder – ohne Erfolg.
    Am nächsten Montag fehlt Rahim immer noch. Das mit dem Handy gebe ich auf und schreibe entnervt einen Brief. Unsere Post geht mittwochs raus, sie kommt aber erst zu einer städtischen Sammelstelle und wird von dort aus zu Rahims Eltern weitergeleitet. Schwups – schon ist die zweite Woche rum.
    Fast könnte ich jetzt eine Schulversäumnisanzeige in die Wege leiten. Das darf man sich aber nicht so simpel vorstellen. Ich muss mit dem Jugendamt Kontakt aufnehmen und die Schulpsychologen verständigen, dann muss ich Rahims Eltern einen Hausbesuch abstatten und lange Berichte über all dies und seine Schulkarriere schreiben. Mit anderen Worten: Das dauert ein paar Tage! Die Bearbeitung meiner Anzeige durch das zuständige Amt nimmt dann richtig Zeit in Anspruch, so etwa zwischen vier Wochen und vier Monaten.
    Ich will es kurz machen: Rahim, der ja weiß, dass Frl. Krise fies und gemein ist, beobachtet die Post und klaut inzwischen mein Schreiben aus dem häuslichen Briefkasten. Seine Mutter erfährt also nicht, dass er schwänzt, und der Junge hat wieder ein paar Tage herausgeschlagen. Das ganze Spielchen dauert so lange, bis Karl oder ich unangemeldet bei Rahim zu Hause auftauchen. Meistens ist keiner da. Oder es macht keiner auf.
    Wir schreiben den nächsten Brief. (Einschreiben nur im äußersten Notfall, dafür gibt es keinen Finanztopf im Sekretariat,

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